Künstliche Intelligenz ist für deutsche Praxen und Kliniken immer noch Neuland. Und das, obwohl über Algorithmen berichtet wird, die Melanome von harmlosen Läsionen unterscheiden oder Gehirntumore treffsicher aus Bilddaten erkennen können. Was hält uns auf?
Ein Algorithmus erkennt Blasenkrebs nicht nur anhand von Aufnahmen diverser Gewebeschnitte. Er teilt die maligne Erkrankung in Stadien ein und liefert eine Begründung dieser Klassifikation. Das berichten Forscher der Universität Florida. Um ihr System zu trainieren, arbeiteten sie mit Testdaten inklusive Grad der Differenzierung. Anschließend trat das KI-System gegen 17 Pathologen an – und war hinsichtlich der Sensitivität bzw. Spezifität sogar besser. Die Untersuchung passt in eine Reihe ähnlicher Arbeiten. Intelligente Software unterscheidet Melanome von harmlosen Läsionen, analysiert mikroskopische Aufnahmen der Hornhaut oder erkennt das Ansprechen von Pharmakotherapien bei Hirntumoren.
„In den letzten drei bis vier Jahren hat sich im Bereich der Diagnostik viel getan“, bestätigt Kristin Strauch gegenüber DocCheck. Sie ist Referentin für Künstliche Intelligenz beim Digitalverband Bitkom. Das erklärt sie vor allem mit Entwicklungen bei der Hardware: Heute ist es möglich, große Datenmengen zu speichern und mit schnellen Prozessoren zu durchsuchen. Warum es in deutschen Praxen oder Kliniken noch keine KI-Systeme gibt, erklärt sie auch mit fehlenden Daten.
Viele Datensätze – gute Ergebnisse
Zum Vergleich: Amerikas Forschern stehen große Datenmengen zur Verfügung, und der Sprung vom Labor in die Praxis ist erstmals geglückt. Hier soll dies am Beispiel der diabetischen Retinopathie erläutert werden:
Michael D. Abràmoff von der University of Iowa hat 900 Patienten mit Diabetes, aber ohne diabetische Retinopathie, in eine Studie aufgenommen. Sein Algorithmus verglich Stereofotografien im Weitwinkelbereich sowie Bilddaten der Optischen Kohärenztomographie mit einer Referenzdatenbank. Sein KI-System übertraf alle Erwartungen mit einer Sensitivität von 87,2 Prozent und einer Spezifität von 90,7 Prozent. Abràmoff schreibt, die Zahlen zeigten, dass sich per KI eine Methode der fachärztlichen Diagnostik in die Grundversorgung integrieren lasse.
Solche Ergebnisse waren für die US Food and Drug Administration (FDA) Grund genug, um eine Zulassung auszusprechen: Hausärzte oder Allgemeinmediziner fotografieren die Netzhaut von Diabetes-Patienten mit einer speziellen Kamera. Per Upload geht es dann zum Cloudserver. Die KI-Software liefert nur zwei mögliche Antworten:
Deutschland muss digital werden
„Anders als in den USA fehlen in Deutschland digitale Datensätze aus der Diagnostik“, so Strauch. „In Arztpraxen liegen viele Daten nicht digital oder nicht in geeigneter Form vor.“ Eine PDF-Datei mit Informationen an unterschiedlichen Stellen reicht eben nicht aus. Deshalb fordert sie, elektronische Patientenakten (ePA) rasch einzuführen. Umfragen von Bitkom zufolge würden 65 Prozent aller Patienten diese Tools auch nutzen wollen. Besonders hoch im Kurs stehen digitale Impfpässe (98 Prozent Nennung), Medikationspläne mit Wechselwirkungscheck (91 Prozent), Diagnosen (91 Prozent) oder Informationen über die Vorgeschichte (87 Prozent).
Ohne ausreichend große Datensätze kommt es schnell zum Datenbias, einer unerwünschten Verzerrung aufgrund zu weniger Informationen. Beispielsweise empfahlen Algorithmen japanischen Onkologen merkwürdige bis gefährliche Therapieoptionen. Das lag vor allem an zu wenigen Trainingsdaten pro Krebsart, teilweise kaum mehr als 100. Außerdem unterscheiden sich Leitlinien von Land zu Land. Das KI-System wurde nur mit amerikanischen Aufzeichnungen „trainiert“.
Neben technischen Hürden hemmen in Deutschland aber auch rechtliche Probleme die weitere Entwicklung. Derzeit existieren 16 unterschiedliche Landesgesetze zum Datenschutz. Spezielle Regelungen bei kirchlichen Trägern von Kliniken, bei Unikliniken oder bei privaten Trägern machen die Sache nicht leichter. Ärztekammern sind ebenfalls beteiligt, aber auch das Sozialrecht ist zu berücksichtigen: „eine innovationshemmende Gesamtkonstellation“, so Strauch. „Wir müssen dies dringend vereinheitlichen, etwa über einen Bund-Länder-Vertrag.“
Klare Regeln für die Datenspende
Auch beim Umgang Patienten muss sich noch viel ändern. Momentan werden sie über jede Nutzung aufgeklärt und stimmen dann zu – oder nicht („Informed consent“). „In Deutschland fehlen uns Möglichkeiten einer Datenspende, von ein paar Forschungsprojekten abgesehen“, berichtet Strauch. Sie hofft auf Fortschritte durch Diskussionen innerhalb der Datenethikkommission bzw. der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ im Bundestag. Bis spätestens Herbst 2020 sollen alle Handlungsempfehlungen vorliegen. Strauch: „Wir können es uns nicht leisten, länger zu warten.“
Eine Möglichkeit wäre, Daten in einem neu zu schaffenden Kompetenzzentrum treuhänderisch zu verwalten. Unabhängige Experten entscheiden dann, welche Hochschule oder welcher pharmazeutische Hersteller Zugriff erhält. Auch die Einwilligung von Patienten sollte vereinfacht werden. Bei Experten gilt die „Meta-Einwilligung“ (Meta Consent) als gangbarer Weg: Bürger geben anlassunabhängig ihre Zustimmung zur Datenfreigabe in der Medizin. Sie kreuzen an, ob dies national oder international geschehen soll und ob beispielsweise nur Universitäten oder auch Pharmakonzerne Zugriff bekommen. Das sichert die Selbstbestimmung, spart allen Beteiligten aber ständige Nachfragen.
Nicht ohne meinen Arzt
Unter diesen Voraussetzungen wird sich auch bei uns der Arztberuf ändern. „Wir rechnen damit, dass KI nicht den Arzt ersetzt, sondern unterstützend und nicht als autonomes Diagnosesystem zum Einsatz kommt“, sagt Strauch. Gerade bei monotonen Tätigkeiten wie der Bilderkennung punkten Algorithmen. Die Tools spüren keine Müdigkeit und machen im besten Fall weniger Fehler als Mediziner mit geringer Erfahrung. Ärzte müssen sich stärker als bisher mit Computerwissenschaften befassen. Auch im Medizinstudium sollten solche Inhalte zur Pflicht werden.
Das letzte Wort haben Patienten. Umfragen zufolge lehnen 63 Prozent alleinige Diagnosen durch KI-Systeme bzw. Computer ab. Im Unterschied dazu befürworten 61 Prozent gemeinsame Diagnosen durch Arzt und Computer. Gerade in der Medizin spielen menschliche Kontakte eben eine große Rolle.
Zaudern kostet Leben
Wir dürfen nicht vergessen: Datenschutz ist wichtig. Aber fehlende Informationen beim Arzt bzw. Apotheker kosten Menschenleben. Viele Tote durch Arzneimittelinteraktionen oder durch OP-Komplikationen wären mit dem nötigen Wissen aus digitalen Akten vermeidbar. Zaudern ist der falsche Weg!Bildquelle: pixabay, pexels