Herr Reiche sitzt vor mir. Er hat Krebs. Die Diagnose ist schon zwei Monate her. Die OP ist überstanden, jetzt soll er einen Port für die Chemo bekommen. Plötzlich schüttet er mir sein Herz aus. Ich habe eigentlich keine Zeit für ein Gespräch und möchte sie mir doch unbedingt nehmen.
Es ist Mittwoch, ein ganz normaler Arbeitstag in einer ganz normalen Arbeitswoche. Als ich endlich aus dem OP komme, ist es schon 15 Uhr. Wir sind wieder einmal unterbesetzt, inzwischen ist das eigentlich der Normalzustand. Da wir ein volles OP-Programm hatten, wurde ich noch gebraucht. Nun muss ich die Patienten für den nächsten Tag anschauen gehen.
Ich beginne mit dem Einfachsten: Ein 54-jähriger Patient, Herr Reiche. Er soll morgen einen Port-a-Cath bekommen, also eine kleine Kapsel mit Schlauch, die unter die Haut gepflanzt wird. Der Schlauch wird in eine große Vene eingebracht. Das Ganze nutzt man für Chemotherapien, denn da kann man einfach den Port anstechen und braucht nicht die armen Venen der Patienten zu plagen. Aus diesem Eingriff ergibt sich auch die Diagnose: Herr Reiche hat Krebs.
Die Durchsicht der Akte ergibt wenig. Er war vor zwei Monaten hier zur Entfernung eines Stücks des Dickdarms, das krebsbefallen war. Sonst ist er gesund, nimmt keine Medikamente. Narkose wird er keine benötigen, der Port wird unter örtlicher Betäubung, aber mit Anästhesiebegleitung implantiert, falls man doch mal ein Schmerzmittel geben muss. Die Aufklärung wird kurz ausfallen, da ich ihn nicht länger über Narkosekomplikationen aufklären muss.
Ich stelle erstmal meine Fragen nach Größe und Gewicht und gehe dann mit ihm durch, was ich in der Akte über ihn gelesen habe. Medikamente nimmt er tatsächlich keine, er bekommt aber regelmäßig Chemo.
Gegen Ende des Gesprächs kommen wir noch einmal auf den morgigen Tag zu sprechen und darauf, dass er kein Frühstück essen darf, weil er nüchtern sein muss.
Herr Reiche hält einen Moment inne und schaut mich an. Er ringt sichtlich um Worte. Ich lasse die Sekunden verstreichen und warte, bis er von sich aus weiterspricht. „Wissen Sie, bis vor zwei Monaten dachte ich, ich sei gesund“, platzt es aus ihm heraus. „Ich bin am Morgen aufgewacht und alles war okay. Dann war ich bei der Hausärztin, nur zur Routine und die meinte, eine Darmspiegelung wäre mal gut.“
Ich nicke. Das habe ich in der Akte gelesen: Routinedarmspiegelung, wie man sie ab 50 eben so empfiehlt, es bestand aber kein Verdacht, nichts.
„Da bin ich also hin und ich habe nichts geahnt. Nichts. Mir ging es doch gut! Ich hatte keine Probleme mit irgendwas. Alles in Ordnung. Als ich wieder aufwache, steht der Arzt vor mir und sagt: Herr Reiche, das sieht nicht gut aus.“
Sein Tonfall ist ruhig und er schaut mir direkt in die Augen, während er spricht. Es fällt mir schwer, seine Gefühle so zuzuordnen, dass ich passend reagieren kann. Angst und Trauer zeigt er nicht. Frustration vielleicht oder Wut?
Ein Teil von mir hasst solche Gespräche. Ich habe immer das Gefühl, dafür nicht ausreichend ausgebildet zu sein. Wie soll ich mit einem Patienten über eine schwere Krankheit reden? Was sagt man da? Was sagt man nicht? Ich fühle mich hilflos und überfordert.
Dann muss ich mich immer kurz selbst an der Nase nehmen. Niemand verlangt von mir, ein tiefgründiges Gespräch zu führen. Zuhören reicht. Einfach nur zuhören und Verständnis zeigen. Das kann doch nicht so schwer sein.
„Dann hatte ich die Operation. Und man hat gedacht, wenn man einfach den Darm rausschneidet, dann ist alles gut. Aber dann haben sie einen befallenen Lymphknoten gefunden. Und jetzt hab ich Chemo. Und dann schauen wir weiter.“
Ich schaue ihn an und nicke. „Eins nach dem anderen. Ein guter Plan.“
„Das muss ich so machen. Als ich die Diagnose bekommen habe, da hat es bestimmt zwei Wochen gedauert, bis ich es realisieren konnte. Ich dachte immer, da sei doch bestimmt ein Fehler passiert. Ich kann nicht Krebs haben. Ich bin kein Krebspatient. Das kann ich gar nicht sein, dafür geht es mir zu gut.“
Ich nicke erneut. „Das ist bestimmt eine große Belastung.“ Einer meiner Standardsätze, wenn ich nicht mehr weiß, was ich sagen soll, aber der kommt meist ganz gut an. Irgendwo im Hinterkopf drängt eine Stimme, dass ich noch fünf weitere Patienten sehen muss. Ich widerstehe dem Drang, auf die Uhr zu schauen. Für dieses Gespräch will ich Zeit haben, mit den Konsequenzen werde ich nachher schon irgendwie zurechtkommen.
Herr Reiche presst die Lippen zusammen. „Ja, schon … Und jetzt kommt noch eine Narbe dazu. Ist das eine große Narbe?“
Ich spreize die Finger auf etwa 10 cm. „So vielleicht?“
„Ich will gar keine Narben mehr. Ich hab schon fünf von der letzten OP. Mein schöner Körper!“ Er lacht verschmitzt und wird gleich wieder ernst. „Aber ich hab ja keine Wahl.“
Das Gefühl hab ich schon tausendmal bei Patienten gesehen. Es ist eines, das ich gut verstehen kann. „Das ist gemein, oder? Man hat sozusagen keine Wahl. Man verliert die Autonomie.“
Herr Reiche zuckt mit den Schultern. „Na, ich hab schon eine Wahl, aber die Alternative ist der Tod und das ist ja auch blöd. Aber ich hab gesagt, ich mach jetzt das halbe Jahr Chemo, und wenn’s dann nicht gut ist, dann ist es halt so. Dann will ich lieber sterben. Ich kann nicht jeden Morgen aufwachen und ein Krebspatient sein. Das ist nicht mein Leben. Das will ich nicht.“
Das Gespräch setzt sich noch eine Weile fort. Irgendwann ist er still und wir schweigen beide eine Weile. Das ist für mich der Moment, um abzubrechen, denn ich muss wirklich irgendwann weiter. Er unterschreibt mein Formular und ich verabschiede mich.
Danach ist meine Laune im Keller. Ich würde mir gerne die Zeit nehmen, das Gespräch, das mich sehr berührt hat, zu verarbeiten, irgendwie einzuordnen. Aber die nächsten Patienten warten schon auf mich, wie auch meine Vorgesetzten, die mich pünktlich zum Rapport erwarten. So ist es ja immer, wenn man hier etwas erlebt, das einem nahe geht: Jetzt musst du funktionieren, Gefühle weit von dir wegschieben, dich abschotten. Verarbeiten kannst du es dann zu Hause. Oder so.
Und dann wundern sich die Leute, warum Krankenhauspersonal so abgestumpft wirkt.
Bildquelle: Matthew T Rader, unsplash