Selbsttötungen stehen oft am Ende einer psychischen Krankengeschichte. Forscher haben weitere Risikofaktoren, aber auch Ansätze zur Behandlung entdeckt. Jetzt kehren Opioide zurück. Sie könnten schon bald das therapeutische Portfolio bereichern.
In Deutschland sterben pro Jahr zwischen 10.000 und 12.000 Menschen an einem Suizid – bei unbekannt hoher Dunkelziffer. Neben bekannten Risikofaktoren wie depressiven Erkrankungen oder Psychosen spielen Unfälle ebenfalls eine Rolle, berichtet Donald A. Redelmeier aus Toronto.
Im Rahmen einer Kohortenstudie hat er Aufzeichnungen von 235.110 Patienten mit Gehirnerschütterung ausgewertet. Entsprechende Daten kamen vom Ontario Health Insurance Plan, einer Krankenversicherung aus der gleichnamigen kanadischen Provinz. Wie Redelmeier herausfand, hatten 168.188 Personen keine weiteren Risikofaktoren, sprich psychische Vorerkrankungen. In dieser Gruppe nahmen sich 667 Menschen innerhalb von 9,3 Jahren das Leben. Das entspricht umgerechnet 31 Suiziden pro 100.000 Einwohner und Jahr. WHO-Forscher geben für den Bevölkerungsdurchschnitt 9,8 Fälle pro 100.000 Einwohner und Jahr an. Bei Gehirnerschütterungen, die sich Freizeitsportler am Wochenende zugezogen hatten, errechnete Redelmeier sogar 39 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner und Jahr. Plausible Erklärungen bleibt der Wissenschaftler jedoch schuldig.
Redelmeiers Kollegen aus Toronto stießen noch auf eine weitere Spur. Junaid Bhatti aus Toronto hat Daten von 8.815 Patienten untersucht, die sich aufgrund von Adipositas einer bariatrischen OP unterzogen. Älteren Studien zufolge ist die Suizidrate vier Mal höher als bei der Allgemeinbevölkerung, was Bhatti im Großen und Ganzen bestätigen konnte. Bereits vor entsprechenden Eingriffen fand er 2,33 Suizide pro 1.000 Personenjahre, danach waren es 3,63. Als Grund sehen Psychiater vor allem psychiatrische Komorbiditäten bei Adipositas. Die American Society for Metabolic and Bariatric Surgery fordert schon lange, Patienten vor Eingriffen psychiatrisch zu untersuchen, hat sich aber noch kein ausreichendes Gehör verschafft.
Umso wichtiger wären Möglichkeiten zur Intervention. Ärzte schreiben in der mittlerweile überarbeitungsbedürftigen Leitlinie „Suizidalität im Kindes- und Jugendalter“: „Zurückhaltung ist geboten bei der Verschreibung einer Medikation, die nicht überwacht werden kann und potenziell gefährlich ist.“ In diese Kategorie fallen auch Opioide. Vor der Einführung moderner Trizyklika erhielten Patienten mit schweren Depressionen nicht selten Opioide. Yoram Yovell aus Haifa machte sich Daten aus Tierversuchen zunutze: Separierten Wissenschaftler einzelne Nager von ihrer Gruppe, linderten niedrig dosierte Opioide den Trennungsschmerz. Diesen Effekt untersuchte Yovell jetzt am Menschen. Er nahm 62 Patienten mit ausgeprägten Suizidgedanken in seine Studie auf. Alle Teilnehmer hatten elf oder mehr Punkte auf der Beck-Suizidgedanken-Skala (BSS). Der Schnitt lag bei knapp 20 Punkten; maximal sind 38 Punkte möglich. Dahinter verbargen sich Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Anpassungsstörungen oder Depressionen, aber ohne Suchtprobleme. Yovell verabreichte als Ergänzung zur bestehenden Pharmakotherapie niedrig dosiertes Buprenorphin. Er wählte 0,1 bis 0,2 Milligramm pro Tag. In der Schmerztherapie setzen Ärzte 0,6 bis 1,6 Milligramm pro Tag ein. Dass seine Wahl auf Buprenorphin fiel, ist kein Zufall. Der Arzneistoff führt bei einer willentlich herbeigeführten Überdosierung zu geringeren Nebenwirkungen als andere Opioide. Jeder dritte Patient erhielt nur Placebo. Vom Psychiater verordnete Arzneistoffe wurden weiter eingenommen. Nach vier Wochen verringerte sich der BSS-Score unter Verum signifikant um 7,1 Punkte. Sowohl in der Placebo- als auch in der Opioidgruppe gab es einen Suizidversuch. Opioidtypische Nebenwirkungen traten trotz der niedrigen Dosierung auf. Dazu gehörten gastrointestinale Symptome, Müdigkeit und Mundtrockenheit. Trotz dieser vielversprechenden Resultate hat Yovells Arbeit einen Haken. Über langfristige Effekte kann der Wissenschaftler nichts sagen.
Alan F. Schatzberg von der Stanford School of Medicine fordert deshalb größere Studien von längerer Dauer. In einem Kommentar schreibt er, um den Mehrwert abzuschätzen, sei das Abhängigkeitsrisiko unbedingt zu beachten. Schatzberg sieht hier große Chancen für ALKS 5461, sprich Buprenorphin plus Samidorphan. Der Opioidantagonist blockiert μ-Opioid-Rezeptoren, aber keine δ- oder κ-Rezeptoren. Er soll helfen, Arzneistoffabhängigkeiten zu vermeiden. Wissenschaftlich betrachtet stehen die Chancen gut. Nach umfangreichen Vorarbeiten hat Alkermes als Hersteller Mitte 2014 die FORWARD-5-Studie (A Study of ALKS 5461 for the Treatment of Major Depressive Disorder) gestartet. Pharmakologen testen ihren Wirkstoff in niedriger und hoher Dosierung versus Placebo. Mit ersten Ergebnissen rechnet Alkermes im Juli 2016.