Ein Schwerverletzter wird mittig aufgeschnitten und der Herzbeutel eröffnet. Die Clamshell-Thorakotomie verstört selbst gestandene Mitarbeiter des Rettungsdienstes. Viele Ärzte halten die blutige Maßnahme für unnütz. Warum ihr sie aber unbedingt beherrschen solltet.
In den letzten Jahren hört man immer mal wieder, wie Notfallmediziner und Mitarbeiter des Rettungsdiensts von der Clamshell erzählen. Ist die Schilderung der blutigen Rettungsmaßnahme zu Ende, geht meist ein respektvolles und vielleicht auch etwas ungläubiges Raunen durch die Menge, gefolgt von anerkennender Zustimmung ob der heldenhaften Tat.
Andernorts wird es als spinnerte Maßnahme abgetan. Überflüssig, sinnlos und vielleicht sogar ethisch-moralisch fragwürdig. Die Maßnahme sei der Leichenschändung näher als der Rettung eines Lebens, heißt es dann.
Clamshell – so nannte man früher auch Klapphandys, bei denen man den Anruf durch ein Hochklappen des Displays annehmen konnte. In der Gastronomie nennt man Pommes-Gyros-Styroporschalen so, die man aufklappen kann.Und in der Medizin bezeichnet man mit einer Clamshell-Thorakotomie ein Verfahren bei dem der komplette Brustkorb über einen Schnitt etwa in Höhe des fünften Intercostalraums bezeichnet wird. Der Brustkorb wird hochgeklappt, danach wird der Herzbeutel direkt durch einen Schnitt eröffnet und ein eventueller Erguss in der Herzhöhle so entlastet.
Auch ein Laie kann sich vorstellen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, die Außenstehende und selbst erfahrene Rettungsdienstmitarbeiter verstört zurücklassen kann.
Ein schwer verletzter Mensch wird in der Mitte des Körpers komplett aufgeschnitten, der Herzbeutel eröffnet und das mitten auf Straße. Oder in der Kneipe. Oder eben überall da, wo der Tatort sich eben gerade befindet. Es müssen nämlich einige Bedingungen erfüllt sein, damit es überhaupt einen Grund gibt, diese Notfallmaßnahme durchzuführen. Indiziert ist die Clamshell-Thorakotomie unter anderem nämlich bei Messerstichverletzungen im Bereich des Brustkorbs sowie neben oder direkt unterhalb des Brustbeins.
In der deutschen Leitlinie findet sich nur eine einzige winzige und nicht weiter beachtenswerte Erwähnung der Clamshell-Thorakotomie in der Leitlinie Polytrauma. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Leitlinie mit der modernen Entwicklung von Lehre und Forschung nicht mehr Schritt halten kann. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir (noch) relativ wenige Messerstichverletzungen in Deutschland haben. Es gibt aber mittlerweile auch einige Fälle stumpfer Thoraxtraumen, in denen der Patient von dieser Maßnahme profitiert hat.
Die Maßnahme ist sehr blutig, ja. Es sieht danach aus wie in einem Horrorfilm. Nur ist es aber kein Film, sondern das echte Leben. Aber genau dieses Leben ist für den Menschen der dort liegt vorbei, wenn er nicht auf gut ausgebildete Helfer trifft, die wenn nötig zu dieser Maßnahme greifen und so sein Leben retten können. Es geht vor allem um Einblutungen in den Herzbeutel, die das Herz daran hindern, effektiv zu schlagen.
Manch einer möchte nun vielleicht sagen „Da könnte man ja auch eine Drainage einlegen“? Falsch. Erstens ist eine Perikarddrainage nicht mal eben gelegt und selbst erfahrene Kardiologen tun sich hier selbst mit Unterstützung durch Ultraschall manchmal recht schwer. Zweitens reicht eine solche Drainage nicht, wenn sich bereits ein Gerinnsel gebildet hat.
Recht anschaulich ist ein Video, das auf Twitter die Runde gemacht hat:
Bildquelle: Screenshot Twitter
Das Thema wird hitzig diskutiert. Auf der einen Seite gibt es die anachronistischen Verweigerern an, die den Sinn der Maßnahme nicht erkennen und es unter Leichenschändung abtun. In ihrem Bereich komme sowas sowieso nicht vor, die Messerstechereien auf den Straßen Londons seien weit entfernt von ihrem beschaulichen Rettungsdienstbezirk, heißt es dann.
Gleich daneben sind die innerklinischen Notfallmediziner einzuordnen, die der Meinung sind, dass sowas ja nur die da draußen betrifft und in der Notaufnahme müsse man das nicht können.
Und auf der anderen Seite tänzeln die enthusiastischen Vollzeitretter, die mit missionarischer Verklärung von den neuen Möglichkeiten schwärmen, Verläufe, die bisher als verloren galten, doch noch zum Positiven wenden zu können. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.
Ich habe es selber innerhalb weniger Monaten zweimal erlebt, dass wir in unserer Klinik Patienten, die vom Notarzt gebracht wurden, nur durch eine solche invasive Maßnahme retten konnten. Und wir sind nicht die einzigen. Die Fallberichte nehmen zu und die Maßnahme findet auch im deutschsprachigen Raum zunehmend mehr Beachtung. Zu Recht.
Es gibt immer noch zu viele Kollegen, die im Jahr 2019 meinen, dass ein traumatischer Herz-Kreislauf-Stillstand keine Prognose hat. Dass das falsch ist (und zwar nicht erst seit 2019) hat unter anderem diese viel beachtete Arbeit gezeigt „Unfallbedingte vermeidbare Todesfälle in Berlin 2010: Notwendigkeit, die Strategien für das präklinische Management und die Ausbildung zum Trauma-Management zu ändern.“
Hier konnte gezeigt werden, dass etwa 15 Prozent der Todesfälle als „möglicherweise“ oder sogar „mit Sicherheit überlebbar“ klassifiziert wurden. Das sind die Patienten, bei denen die Reanimation nach einem Trauma abgebrochen und der Patient für tot erklärt wurde. Unwiederbringlich.Patienten, die man mit beidseitigen Thoraxdrainagen, einer Beckenschlinge, einem chirurgischen Atemweg und/oder einer Eröffnung des Herzbeutels hätte retten können.
Ein Beispiel hierzu: Wir flogen in eine ländliche Region, durch einen Querschläger wurde ein junger Mann im Brustkorb verletzt. Im Anflug wurden wir angesprochen und abbestellt, wir landeten trotzdem, da wir bereits die Einsatzstelle sahen und direkt davor eine gute, sichere Landemöglichkeit bestand. Ein Notarzt war vor Ort: Man habe bei schlechter werdenden Kreislaufverhältnissen eine Reanimation mit Herzdruckmassage begonnen und wollte nun aufhören, da der Notarzt den Patienten für tot erklärt habe.
Der Patient hatte zwei Venenzugänge, war mit einem Larynxtubus versorgt und es lief eine Herzdruckmassage wie beim Herzinfarktpatienten. Der junge Mann hatte aber keinen Herzinfarkt, sondern wurde durch ein Geschoss verletzt. Und dafür gelten andere Regeln.
Tatsächlich hat die Thoraxkompression laut Leitlinie des European Resuscitation Councils eine geringere Priorität als die sofortige Behandlung der reversiblen Ursachen durch z.B. eine Thorakotomie, Kontrolle der Blutung durch eine Beckenschlinge oder durch eine proximale Kompression der Aorta. Alles wichtiger als die Herzdruckmassage.
Der Patient erhielt also beidseits eine Thoraxdrainage, links zischte es einmal, kurz danach kam das CO2 und der Patient hatte wieder einen Kreislauf. Der Eintritt des Projektils war rechts vom Brustbein und damit innerhalb der sogenannten cardiac box und ja, der Patient hätte eine Clamshell-Thorakotomie bekommen, wenn nicht schon nach einer einfachen Mini-Thorakotomie der Kreislauf wiedergekommen wäre.
Ein anderes Beispiel: Ein Pfleger wurde in einer Psychiatrie von einem psychisch kranken Patienten ohne Vorwarnung mit einem Brotmesser attackiert und umgehend in unsere Klinik eingeliefert. Von Seiten des Rettungsdienstes wurde ein PVK gelegt und im Sinne des Rettungskonzeptes „load-and-go“ wurde der Patient umgehend in unsere Klinik transportiert.
Das Messer steckt noch im Brustkorb, die Herzfrequenz lag bei 188/min, der Blutdruck wurde vom Rettungsdienst als nicht messbar beschrieben. Palpatorisch allerhöchstens flau zentral tastbar erfolgte die weitere Versorgung nach Schockraumprotokoll. Da der Patient kreislaufinstabil war und bereits bei Ankunft im Schockraum reanimationspflichtig wurde, erfolgte umgehend eine Mini-Thorakotomie beidseits. Da sich hierauf keine Besserung einstellte, wurden die beiden Mini-Thorakotomien zu einer Clamshell-Thorakotomie verbunden. Es entleerte sich ein massiver Perikarderguss, in der Folge ließ sich rasch ein ausreichender Kreislauf etablieren. Unter Hinzuziehung der Herzchirurgen konnte dann eine höhergradige Verletzung des Herzmuskels ausgeschlossen werden. Der Patient durfte nach einem einwöchigen Aufenthalt auf der Intensivstation entlassen werden.
Manche Kliniker argumentieren, dass sie keine Herzchirurgen vor Ort hätten und es sinnlos sei, eine Clamshell durchzuführen, wenn niemand vor Ort sei, der ein mögliches Loch im Ventrikel nähen könne. Die Sorge ist nicht ganz unberechtigt, aber eben genanntes Beispiel aus unserer Klinik zeigt, dass der Patient ohne die Notfallmaßnahme nicht überlebt hätte.
Der Fall zeigt auch, dass alle die im Rettungsdienst oder in der Notfallmedizin tätig sind, sich mit dieser Maßnahme auseinander setzen sollten. Keiner kann sagen, dass eine Clamshell-Thorakotomie irrelevant sei. Das ist fahrlässig und entspricht keiner zeitgemäßen Versorgung Schwerverletzter.
Besonders tückisch wird die Lage auch dadurch, dass diese Patienten oft präklinisch so instabil sind, dass sie nicht mehr bis in das überregionale Traumazentrum geflogen werden können, sondern in die nächstbeste Klinik gefahren werden. Da knallen die Türen auf und der Patient fliegt durch die Tür und dann liegt er da in der Notaufnahme des kleinen Grund- und Regelversorgers. Gerade dort werden frühzeitig die Reaniomationsbemühungen eingestellt und invasive Maßnahmen gar nicht erst begonnen.
Wie man die entsprechende Thorakotomie macht, wurde hier mal ganz gut beschrieben, lernen kann man es zusätzlich unter anderem in Kursen wie diesem hier (INTECH = INvasive TECHniken). Einen hervorragenden Artikel zum Thema hat Scott Weingart bereits 2012 geschrieben, ich empfehle außerdem die dort eingefügten Videos und diesen deutschsprachen Artikel des wunderbaren FOAMINA-Teams.
Unterm Strich würde ich mir wünschen, dass Verweigerer und Missionare zueinander finden. Wenn dadurch auch nur ein einziger Mensch gerettet wird, haben sich all die hitzigen Diskussionen, die sachlichen und unsachlichen Auseinandersetzungen gelohnt.
Es geht um den Patienten, der da liegt und nicht um uns. Es geht nicht darum, sich als martialischem und furchtlosem Helden ein Denkmal zu setzen. Es geht aber auch nicht, solche Maßnahmen als verrückte Ideen abzutun und davon auszugehen, dass ein derartiger Fall im eigenen Krankenhaus auf dem Land schon nicht vorkommen wird. Es geht um die 15 Prozent, die wir retten können.15 von 100, denen wir helfen können wieder ins Leben zurückzukehren. DieClamshell-Thorakotomie ist sicherlich nicht die Antwort auf alle Fragen, aber eine Technik, die zum Repertoire der invasiven Möglichkeiten gehören muss.
Bildquelle: it's me neosiam, pexels