Statistik. Vielen Medizinstudenten ein Gräuel. Die Uni-Kurse sind selten gut besucht. Und wenn, dann nur, weil sie Pflicht sind. Doch Studien unter Ärzten und Studenten zeigen, dass bei der Risikoeinschätzung und Interpretation diagnostischer Ergebnisse einiges im Argen liegt.
Es gibt keine gute Medizin ohne Statistik. Das ist vielen Medizinstudenten nicht wirklich bewusst. Warum sollte sich ein angehender Arzt mit Statistik befassen? Ärztliches Handeln basiert auf Wissen. Und dieses Wissen wurde erworben durch teils langjährige Forschung und Studien. Es ist wichtig, zu verstehen, wo dieses Wissen herkommt und wie es entstanden ist. Ansonsten verfallen wir Zufällen und Halbwahrheiten, die auch dadurch nicht besser werden, dass sie mantrahaft wiederholt werden. Dies wäre unter ethischen, medizinischen und ökonomischen Aspekten nicht vertretbar. Und dennoch sind die Statistikkurse an der Uni bei den Studenten nicht gerade beliebt. Zum einen sind sie dadurch unattraktiv, dass viele das längst verdrängte Mathe-Abiwissen wieder aus ihrem Gehirn hervorkramen müssen. Vor allem die, die damals schon heilfroh waren, als das Fach überstanden war. Statistik ist für viele ein komplizierter Zahlenwust mit diffusen Formeln und Regeln, die doch auch ein Computer erledigen kann. Oder eben richtige Statistiker. Warum sich viele Medizinstudenten und auch Ärzte mit dem Thema Statistik befassen sollten, erschließt sich erst, wenn man erkannt hat, wie man ohne dieses Wissen manipuliert werden kann und mit dem Wissen seinen Patienten durch richtige Einschätzung von Studien und Forschungsergebnissen besser helfen kann.
Finnische Forscher haben kürzlich untersucht, wie Ärzte die Risikoeinschätzung in Bezug auf die Krankheiten ihrer Patienten betreiben. Dabei kam zutage, dass zu oft der potenzielle Nutzen eines Tests oder einer Behandlung überzeichnet und die Gefahr bei unterlassener Therapie drastisch übertrieben werde, so Teppo Järvinen von der Universität Helsinki. „Einem Menschen ein ,hohes Risiko' zu attestieren, ist mittlerweile zu einer eigenen Krankheit geworden“, so der Arzt. „Auf diese Weise werden Gesunde krank gemacht und krank geredet.“ Laut Järvinen sind die meisten Ärzte statistische Analphabeten und würden so wenig wie ihre Patienten verstehen, was Risikoangaben eigentlich bedeuten. Da fragt man sich, wie kann das sein? Sollten sie nicht in ihrem Studium darauf vorbereitet worden sein? Gerade Ärzte sollten doch wissen, wie sie Risiken interpretieren, schließlich sind sie es ja, die ihren Patienten aufgrund solcher Angaben Medikamente und Therapien verschreiben. „Ärzte verschreiben enthusiastisch ein neues Osteoporose-Mittel, weil es die Wahrscheinlichkeit, eine Hüftfraktur zu vermeiden, von 97,9 auf 98,9 Prozent erhöht“, sagt Järvinen. „Wahrscheinlich wurde das als 50-prozentige Risikominderung angepriesen, um den Nutzen eindrucksvoller aussehen zu lassen.“ Das ist ein beliebter Trick. Doch den Unterschied zwischen absoluter und relativer Risikoreduktion kennen viele Ärzten nicht.
Die absolute Risikoreduktion in diesem Beispiel ist, dass die Gefahr für eine spätere Fraktur von mickrigen 2,1 gerade einmal auf 1,1 Prozent verringert wird. Relativ gesehen jedoch verringert sie sich um stolze 50 Prozent, was sich als Werbung für ein neues Produkt natürlich viel besser macht. Eigentlich ganz einfach. „Es gibt zwar lobenswerte Ansätze, die Kommunikation über Vor- und Nachteile in der Medizin zu verbessern, [...] doch der Analphabetismus in Sachen Risikoabschätzung ist bei Ärzten wie Patienten immer noch riesengroß.“ Nur aufgrund dieser Blindheit für die eigentlichen Gefahren sei es den Fachverbänden der Kardiologen möglich gewesen, vor zehn Jahren die Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin so weit zu senken, dass den meisten Erwachsenen ein hohes Risiko angedichtet wurde. „Hätte man sich danach gerichtet, wäre zur Behandlung von Hochdruck und Cholesterin das gesamte Budget im Gesundheitswesen draufgegangen“, so Järvinen.
Was für den Geldbeutel der Pharmaindustrie gut ist, ist nicht immer für den Patienten gut. So bemerkt Järvinen auch, dass Patienten oft ein ganz anderes Verständnis davon hätten, ab welchem Risiko sie überhaupt sinnvollerweise eine Therapie benötigten. Während die Produkthersteller am liebsten schon ab geringen Risikoreduktionswerten ihre Medikamente an den Patienten bringen würden, wären die Konsumenten eigentlich erst ab über 20 % absoluter Risikoreduktion dazu bereit, diese für sie bitteren Pillen zu schlucken. Doch wer legt fest, ab wann der Patient eigentlich ein Patient ist und damit behandlungsbedürftig? Im Prinzip liegt die Entscheidung hier wieder beim behandelnden Arzt und deswegen muss der sich mit der Interpretation von klinischen Studien und daraus gewonnenen Daten beschäftigen. Er ist sogar nach der Fortbildungspflicht rechtlich dazu verpflichtet, „sich bis an die Grenze des Zumutbaren über die Erkenntnisse und Erfahrungen der Wissenschaft unterrichtet zu halten“ (Bundesgerichtshof, NUW 1977, 1102, 1103). Und dazu gehört auch die „Lektüre führender Fachzeitschriften. Denn wenn der Arzt diese Pflicht versäumt, kann dies zu einem groben Behandlungsfehler führen.“ (OLG Koblenz 5U 1450/11).
Doch natürlich muss der Arzt die Sachen, die er liest, auch verstehen. Eine vor knapp vierzig Jahren durchgeführte Umfrage des New England Journal of Medicine unter Medizinstudenten und Ärzten aus Harvard untersuchte das Verständnis von Ergebnissen diagnostischer Tests. Sie wurden gefragt: „Wenn ein Test, der eine Krankheit mit einer Prävalenz von 1/1000 detektiert, eine Falsch-Positiv-Rate von 5 % hat, wie hoch ist dann das Risiko, dass eine Person, die ein positives Testergebnis hat, wirklich die Krankheit hat? (angenommen, Sie wissen sonst nichts weiter über ihre Symptome).“ Schockierendes Ergebnis: Weniger als 5 % der Befragten konnten die richtige Antwort geben. Und die meisten dachten, dass der hypothetische Patient zu 95 % die Krankheit hat. Natürlich kann man jetzt sagen, die Umfrage liegt lange Zeit zurück und inzwischen müsste sich ja das statistische Verständnis der Medizinstudenten verbessert haben, wo man es schon in ihren Stundenplan integriert hat. Doch traurigerweise ist dem nicht so. Vor zwei Jahren wurde der Test mit Medizinstudenten und Ärzten wiederholt.
Das Ergebnis: 75 % der Befragten lagen wieder falsch, fast die Hälfte schätzte das Risiko wiederum mit 95 % ein. „Das große Problem heutzutage ist, dass in der medizinischen Ausbildung zu wenig Wert auf Unterricht in evidenzbasierter Medizin gelegt wird, wie beispielsweise Biostatistik und Epidemiologie“, schreibt der amerikanische Medizinstudent Walter Wiggins in seinem Blog. Zwar gibt es Angebote an der Universität und teilweise auch Pflichtkurse in den Fächern, den Studenten wird das nötige Wissen aber dennoch nur spärlich vermittelt. „Einerseits dachten meine Kommilitonen und ich einfach nicht, dass Statistik wichtig genug war, um es ernst zu nehmen und darauf richtig zu lernen. Andererseits wurde die Relevanz für unsere späteren medizinischen Entscheidungen auch nicht wirklich betont und der Kurs selbst war ein langweiliges Absitzen“, so Wiggins. „Natürlich mussten wir für das Examen grundlegende Prinzipien und Rechnungen lernen, aber danach hat sich keiner mehr darum gekümmert und es wurde schnell wieder vergessen.“
„Wir gehen davon aus, dass Ärzte ausgewogen und kenntnisreich Empfehlungen über das Leben der Patienten abgeben, die vor ihnen sitzen“, sagt Järvinen. Leider sei das trotz Medizinstudiums und klinischer Ausbildung oft nicht der Fall. „Führen etwa die Blinden die Blinden?“ Auch in Deutschland ist die Situation ähnlich. Statistikkurse sind zwar fester Bestandteil des Curriculums, ernst genommen werden sie von den meisten Medizinstudenten jedoch nicht. „Biometrie und Statistik war bei uns damals furchtbar langweilig“, erinnert sich Matthias Schreyner, Medizinstudent im 9. Semester in München. „Eigentlich war jeder froh, als der Kurs vorbei war. Ich hätte mir gewünscht, dass der Stoff ein bisschen spannender für uns Mediziner aufbereitet worden wäre [...].“ Matthias brachte sich die Statistik im Rahmen seiner Doktorarbeit bei. „Als ich für unsere journal clubs gezwungen war, immer wieder Studien vorzustellen, über die wir im Anschluss dann diskutiert haben, musste ich mich in die Thematik reinfuchsen. Später habe ich dann selbst mit den Statistikern unseres Instituts für die Doktorarbeit zusammen gearbeitet und da habe ich einiges gelernt. Jetzt weiß ich wenigstens, wie ich Studienergebnisse zu bewerten habe, das kann mir als Arzt nur von Vorteil sein.“
Studienstatistiken zu interpretieren ist nicht einfach. Oft ist undurchsichtig, wer sie finanziert und was mit den gewonnenen Daten wie angestellt wurde. Es gibt natürlich immer wieder gefälschte Statistiken, es gibt aber auch solche, die einfach falsch oder naiv interpretiert werden. Skepsis und Hinterfragen sind immer angebracht. Wer dies nicht tut, ist aufgeschmissen. „Das Unwissen wird von der Industrie und anderen Interessenvertretern beinhart ausgenutzt. Statistik wird so präsentiert, wie sie ins Konzept passt. Viele Ärzte müssen Ergebnisse glauben, weil sie sie nicht selbst interpretieren können“, so der Direktor der österreichischen Cochrane-Zweigstelle Gerald Gartlehner. Welche Auswirkungen das für den Patienten haben kann, erläutert Gartlehner auch gleich an einem Beispiel: „Bei einer Konferenz in Deutschland wurden Gynäkologen befragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Frau mit einem positiven Brustkrebs-Screening tatsächlich Brustkrebs hat. 90 Prozent konnten das nicht interpretieren, die meisten haben es überschätzt. Tatsächlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei nur circa zehn Prozent, alles andere sind falsch-positive Befunde. Wenn eine Frau nun fragt ‚Was bedeutet das für mich, habe ich wirklich Krebs?‘ und der eigene Gynäkologe kann das nicht interpretieren, dann ist das natürlich dramatisch für die Frau. Das ist statistischer Analphabetismus mit Konsequenzen im täglichen Leben.“
Laut Gartlehner seien jüngere Mediziner zwar oft wesentlich kritischer eingestellt, die Statistik wäre aber nach wie vor etwas, was man offenbar im Studium nicht ausreichend lernt. „Pharmavertreter kommen mit gut gemachten Broschüren, schön aufbereiteten Statistiken und einfachen Antworten und haben dann zehn Minuten, um den Arzt zu überzeugen“. Und die meisten schaffen es auch. Ohne Grundkompetenzen in Statistik ist kritisches Hinterfragen in der Medizin nicht möglich. Deswegen lohnt es sich beim nächsten Statistikkurs doch etwas genauer aufzupassen. Man sollte hier wirklich einmal nicht nur für die Klausur, sondern fürs Leben lernen.