Der Zusammenhang zwischen Depressionen und ADHS wird schon lange erforscht. In einer Studie geht es um folgende Frage: Ist bei Menschen, die als Kind Ritalin einnehmen, die Wahrscheinlichkeit höher, später Antidepressiva zu erhalten?
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Laut Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) haben 4,4 Prozent aller 3- bis 17-Jährigen eine ADHS-Diagnose erhalten. Bei Jungen wird es mit 6,5 Prozent häufiger diagnostiziert als bei Mädchen (2,3 Prozent).
Ärzte verordnen ihnen u.a. Methlyphenidat (Ritalin® und Generika). „Eine Komorbidität mit depressiven Stimmungsschwankungen ist häufig, dazu liegen uns gute Daten vor“, sagt Professor Dr. Renate Schepker im Gespräch mit DocCheck. Sie arbeitet am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg (ZfP) und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).
Die Frage, die sich aufdrängt, lautet also: Beeinflusst auch Methlyphenidat das Risiko möglicher Depressionen? Und genau mit dieser Frage haben sich israelische Forscher der Bar-Ilan University beschäftigt.
Mehr Ritalin, mehr Antidepressiva?
Zusammen mit Kollegen wertete Nir Madjar Daten von 6.830 Jugendlichen retrospektiv aus. Alle Studienteilnehmer hatten ab dem Alter von sechs bis acht Jahren Methlyphenidat erhalten. Der Nachbeobachtungszeitraum lag bei zwölf Jahren. Als statistische Größe ermittelten sie die Medication Possession Ratio, kurz MPR. Ihr Parameter sagt aus, welche Menge Methylphenidat innerhalb von zwölf Monaten verordnet und durch die Patienten bei der Apotheke abgeholt worden ist.
Anschließend bildete Madjar zwei Gruppen mit MPR ≥ 50 Prozent und MPR < 50 Prozent. Bei Patienten mit MPR ≥ 50 Prozent war das Risiko, später Antidepressiva zu benötigen, um 50 Prozent erhöht, gemessen an der Gruppe mit MPR < 50 Prozent. „Eltern, Ärzten und Lehrern sollte bewusst sein, dass die längere Einnahme von Medikamenten auf Basis von Methylphenidat ein Indikator für den späteren Einsatz von Antidepressiva sein kann“, kommentiert Madjar in einer Meldung. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie wichtig ein systematisches Follow-up für alle Patienten ist.“
Zur möglichen Erklärung formulieren Madjar und seine Coautoren mehrere Hypothesen:
„Die Arbeit lässt keine Rückschlüsse auf die Krankheitsbilder zu, die den Methlyphenidat-Verordnungen zugrunde liegen“, gibt Professor Renate Schepker zu Bedenken. „Wir haben hier eine rein epidemiologische Pharmavigilanz-Studie, also eine Überwachung der Abgabe eines Fertigarzneimittels, vorliegen.“ Und wie bei jeder Kohorte sieht man Assoziationen, aber keine Kausalitäten.
Andere Kohorten, andere Ergebnisse
Schepker kritisiert außerdem, verschiedene relevante Studien zum Thema seien nicht erwähnt worden (u.a. Dalsgaard S et al, Gundel LK et al., Meier SM et al.). „Das Risiko für Depressionen im Erwachsenenalter ist bei Kindern mit ADHS zwar erhöht, aber weniger als bei Kindern mit Angststörungen oder mit Essstörungen“, fasst die Expertin zusammen. „Persistierte ADHS bis ins Erwachsenenalter, stieg das Risiko für bipolare Depression stark an. Das spricht für einen Zusammenhang mit der Schwere der Störung unabhängig von der Behandlung, wobei es den behandelten Kindern etwa in Bezug auf Unfallrisiken deutlich besser ging als den unbehandelten.“
Was die Thematik zudem kompliziert macht, sind ältere, widersprüchliche Ergebnisse aus weiteren Kohorten. Forscher vom University College of Medicine in Kaohsiung (Taiwan) analysierten Aufzeichnungen einer Versicherungsdatenbank. Sie fanden 71.080 Kinder mit ADHS-Diagnose und wählten 71.080 gleichaltrige Kontrollen. Untersucht wurde ein Zeitraum von elf Jahren:
Patienten mit ADHS entwickelten statistisch signifikanter depressive Störungen (5,3 versus 0,7 Prozent). Soweit, so bekannt. Methlyphenidat senkte das Risiko späterer Depressionen (Faktor 0,91). Die Dauer der Pharmakotherapie spielte hier keine Rolle. Auch hier kann der Effekt weiterer Störgrößen, sogenannter Confounder, nicht ausgeschlossen werden.
Ergebnisse nur schwer auf Deutschland übertragbar
Doch zurück zur Kohortenstudie von Madjar. Schepker zufolge seien die Ergebnisse – von sonstigen offenen Fragen abgesehen – kaum auf Deutschland übertragbar. Das hat mehrere Gründe: „Bei uns wird gemäß Leitlinie zunächst psychotherapeutisch gearbeitet, bevor an eine Medikation gedacht wird. Kaum ein anderes Land hat ein derart breites psychotherapeutisches Angebot.“
Auch bei der Pharmakotherapie sind heimische Ärzte vorsichtig, denn: „Methylphenidat kann depressive Symptome verstärken. Das ist bekannt – und mitunter ein Grund, das Arzneimittel wieder abzusetzen“, ergänzt Schepker. „Wir arbeiten generell mit Medikamentenpausen, danach gibt es wieder ein Assessment. Die israelische Arbeit sieht hier eine Neuigkeit, bei uns ist das den Leitlinien zufolge geltende Praxis.“
Außerdem gebe es ältere Jugendliche mit ADHS, die Methylphenidat nur noch punktuell benötigten, beispielsweise vor Klassenarbeiten. „Nur eine kleine Kerngruppe erhält es kontinuierlich, auch das ist in Israel laut der Erwartung der Veröffentlichung anders“, sagt die Expertin weiter.
Kürzlich veröffentlichte Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) bestätigen den Trend. Erhielten in 2009 noch knapp 50 Prozent aller ADHS-Patienten Psychostimulanzien, waren es in 2016 nur noch 44 Prozent. Gleichzeitig wächst in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie die Bedeutung fachärztlicher Verordnungen von Methylphenidat. 2009 lag der Verordnungsanteil bei 28 Prozent, 2016 waren es bereits 41 Prozent.
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