BEST OF BLOGS | Nachtdienst. Ich soll in den Schockraum. Dort liegt Frau Keller mit COPD und schwerer Lungenentzündung. Sie will sterben, wenn es so weit ist. Die Pflege will, dass intubiert wird. Ich stehe zwischen den Fronten.
Es ist mein dritter Nachtdienst auf der Intensivstation. So weit ist es ruhig, wir sind nicht mal zur Hälfte ausgelastet. Gegen 22 Uhr werde ich von der diensthabenden Anästhesistin zur Unterstützung und Übernahme in den Schockraum gerufen.
Frau Keller ist 68 Jahre alt und hat eine schwere Lungenerkrankung, eine COPD Stadium IV. Sie wurde von der Sanität ins Spital gebracht wegen schwerer Atemnot. Wirklich, es ist ein erschreckendes Bild, welches sie uns bietet.
Sie sitzt auf der Liege, die Hände verkrampft an der Matratze festgeklammert, und sie atmet. Mehr kann sie nicht, denn das Atmen fällt ihr so unendlich schwer, dass all ihre Kraft und Konzentration darauf gerichtet sind. Die Panik steht ihr ins Gesicht geschrieben, sie ist unruhig, wackelt hin und her mit dem Kopf.
Die erste Blutentnahme zeigt erwartungsgemäß schlechte Atemgase und hohe Entzündungszeichen. Frau Keller hat eine Lungenentzündung in ihrer ohnehin schon schwerst geschädigten Lunge und steht offensichtlich kurz vor der Erschöpfung. Der Anästhesistin juckt es schon in den Fingern für die Intubation.
Der zuständige medizinische Assistenzarzt ruft den medizinischen Hintergrund, Leiter der Notfallstation, an. Der pfeift die Anästhesistin zurück. Er kennt die Patientin bestens, hat sie schon viele Male auf der Notfallstation betreut. Eine Intubation, so ist es in ihrer Patientenverfügung geschrieben, lehnt sie klar ab, genau wie eine Reanimation. Angehörige hat sie keine. Frau Keller ist schon sehr lange sehr schwer krank. Sie darf sterben, wenn es denn so weit kommt.
Sauerstoff bekommt die Patientin aus einem speziellen Gerät, welches bis zu 50 Liter pro Minute angewärmter und befeuchteter Luft (mit einstellbarem Sauerstoffgehalt) durch eine spezielle Nasenbrille pusten kann. Damit und nach der Gabe eines fiebersenkenden Mittels verbessert sich Frau Keller ein wenig. Als ich sie das nächste Mal sehe, kann sie ein bisschen mit mir sprechen. Ihr Wille ist klar: Wenn sie sterbe, dann sei das eben so.
Mit der Zeit geht es Frau Keller immer schlechter. Die Pflege ist unzufrieden, drängt mich zur Intubation – doch die steht außer Frage. Ich kann sie verstehen, es ist für uns alle eine unangenehme Situation. Frau Keller reißt sich immer wieder den Sauerstoff aus dem Gesicht, ihre Sättigung ist konstant zwischen 70-75 Prozent. Der Blutdruck ist inzwischen auch tief, sie braucht ein kreislaufunterstützendes Medikament. Verwirrt ist sie nicht. Sie weiß, wo sie ist, was geschieht und eben, was sie will und was nicht. Dem müssen wir Folge leisten, doch es ist schwer, einfach zuzuschauen und nichts zu tun.
Ich rufe irgendwann nach ein Uhr nochmal meinen Hintergrund an, um mir dafür Rückendeckung zu holen. Wenn er nochmal sagt, wir müssen das so akzeptieren, dann glaubt das die Pflege halt eher, als mir kleinem Anfänger. Er bestätigt nochmal das Prozedere und hat trotz der späten Stunde noch ein paar vorsichtig aufmunternde Worte für mich übrig.
Immer wieder stehe ich am Bett. Die Pflege ist unzufrieden und lässt es an mir aus, alle 15 Minuten ruft sie mich ans Bett. Ich kann mit Frau Keller gut reden, sie lässt sich von mir überzeugen, den Sauerstoffschlauch in den Mund zu nehmen. Das ist angenehmer als in der Nase, und so bekommt sie wenigstens ein bisschen mehr Sauerstoff. So schreitet die Nacht voran. Ich bin völlig erschöpft und fühle mich schrecklich hilflos.
Kurz vor vier Uhr komme ich wieder ans Bett, weil ich die Patientin schreien höre. Sie ist außer sich, versucht, mich zu schlagen und anzuspucken, doch ihre Kraft reicht nicht aus. Ich rede beruhigend auf die ein. Sie schaut mich böse an: „Lasst mich gehen, lasst mich gehen!“ Die Pflege keift mich von der Tür aus an, sie müsse jetzt eine rauchen gehen, ihr reicht’s. Damit verschwindet sie.
Leise und ruhig spreche ich auf Frau Keller ein, versuche, meine eigene Unruhe zu unterdrücken. „Versuchen Sie nochmal tief durchzuatmen. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“ Nach einer Weile entspannt sie sich, und ich atme auf. Sie lehnt sich zurück. Ihre Hände, die zuvor am Bettgitter festgekrallt waren, lockern sich und sie nimmt sie in den Schoß.
Dann verdreht sie die Augen nach oben. Ihre Atmung wird langsamer und ruhiger. Ihr Puls wird langsamer. Speichel sammelt sich im Mundwinkel an. Das Gesicht ist fahl. Es ist so weit.
Nun kommt auch die Pflege wieder dazu. Gemeinsam stehen wir am Bett, jeder von uns hält eine Hand. „Wir sind bei Ihnen, Frau Keller, Sie sind nicht alleine“, gurrt die Pflege, die fünf Minuten zuvor noch knallrot im Gesicht und außer sich war. Frau Kellers Atemzüge werden oberflächlicher und unregelmässiger, bis sie schliesslich ganz ausbleiben. Auf dem Monitor sind noch die Ausschläge der Herzaktivität zu sehen, die immer kleiner und seltener werden, bis schließlich keine mehr da sind.
„Jetzt haben Sie’s geschafft“, seufzt die Pflege schliesslich, und schaltet den Überwachungsmonitor aus. Sie beginnt damit, die Patientin für die Aufbahrung herzurichten. „Todeszeitpunkt ist 4:20, ja? Das muss überall genau gleich stehen, also schreib dir das auf.“ Ich ziehe mich in mein Büro zurück und fülle den Totenschein aus.
Ich hab mich schon lange nicht mehr so überfordert und alleine gelassen gefühlt. Das war das erste Mal in meiner Karriere, dass ich eine Patientin beim Sterben begleitet habe, und ich musste das erst mal für mich verarbeiten. Natürlich musste es ausgerechnet nachts sein, wenn sonst keiner da ist, der mir helfen kann – aber so ist das nun mal.
Frau Keller wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.
Bildquelle: Tama66, pixabay