Die Migräne-Therapie ist oft schwierig: Viele Mittel schlagen nicht an oder haben schwere Nebenwirkungen. Eine neu entwickelte Form der Prophylaxe kommt jetzt in Form einer Spritze. Sie setzt am krankheitsauslösenden Peptid an.
Die Migräne-Therapie scheitert häufig an der unzureichenden oder unklaren Wirkung von Medikamenten. Schlägt ein Mittel an, kämpfen die Betroffenen oft mit vielen Nebenwirkungen. Jetzt gibt es einen neuen Hoffnungsträger: die Migränespritze. Zurzeit ist erst eine Variante auf dem Markt, drei weitere werden untersucht. Doch die Therapie steckt noch in den Kinderschuhen – Experten gehen davon aus, dass Hausärzte und Internisten sie erstmal nicht verschreiben werden. Eine Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bezüglich der Kostenerstattung könnte mehr Klarheit bringen. Sie wird noch im April erwartet.
Die Spritzen enhalten Antikörper und wirken prophylaktisch. Sie blockieren das krankheitsauslösende Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Bereits vor über 20 Jahren wurde entdeckt, dass das CGRP eine bedeutsame Rolle in der Pathophysiologie der Migräne spielt. Hier setzen die neuen Arzneimittel an. Der von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) bereits im Mai 2018 zugelassene Wirktstoff Erenumab ist inzwischen auch in Deutschland erhältlich. Zahlreiche Pharmafirmen forschen nun an diesem und weiteren Medikameten zum Spritzen.
„Besondere Vorteile sind der schnelle Wirkungseintritt, die Verträglichkeit und das Ansprechen von Patienten, die durch andere Behandlung keinen Effekt erzielen konnten“, kommentiert der Neurologe und Migräneexperte Prof. Dr. Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel, die neue Zulassung. Bereits nach zwei bis drei Monaten könne festgestellt werden, ob Patienten von der Behandlung profitieren oder nicht. So kann vergleichsweise schnell beurteilt werden, ob die Therapie fortgesetzt werden sollte oder nicht.
Der Migränekopfschmerz ist Folge einer erhöhten Aktivität von Trigeminusneuronen, die durch eine Gefäßerweiterung durch CGRP, Stickstoffmonoxid (NO), Serotonin, Vasoaktivem Intestinalem Peptid (VIP) und Substanz P vermittelt werden. Hierdurch kommt es zur Stimulation afferenter C-Fasern und einer prostagladinvermittelten Entzündungsreaktion.
Patienten weisen während einer Migräne-Attacke erhöhte Spiegel an CGRP auf. Injektionen mit dem proinflammatorischen Neuropeptid sind in der Lage, bei Migränepatienten Anfälle auszulösen. Während Calcitonin den Kalzium- und Phosphathaushalt steuert, wirkt CGRP in erster Linie auf die Blutgefäße. Es gehört zu den stärksten gefäßerweiternden Substanzen.
Ein Antikörper gegen CGRP würde einer Schwellung somit entgegenwirken. Erenumab verhindert die Vasodilatation durch Blockade seines Rezeptors. Aufgrund der langsamen Pharmakokinetik eignet es sich eher zur Prävention der Kopfschmerzattacken als zu ihrer raschen Durchbrechung. Auch Triptane als Serotoninagonisten verringern eine Gefäßerweiterung.
Studien zur Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne belegen für die vier Antikörper Eptinezumab, Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab eine Wirksamkeit.
Die STRIVE-Studie hatte Erenumab als monatliche subkutane Injektion mit Placebo an 955 Patienten verglichen, die vor Studienbeginn über 8,3 Migräneattacken pro Monat geklagt hatten. Erenumab konnte weitere Attacken zwar nicht vollständig verhindern. Ihre Zahl wurde jedoch um 3,2 pro Monat in der 70-mg-Dosierung und um 3,7 pro Monat in der 140-mg-Dosierung gesenkt, verglichen mit einem Rückgang um 1,8 Attacken pro Monat in der Placebogruppe. Klinisch relevante Nebenwirkungen traten im Vergleich zum Placebo nicht auf. Mit sechs Monaten ist der Beobachtungszeitraum allerdings recht kurz. Die Langzeitsicherheit muss in weiteren Studien ermittelt werden.
In der ARISE-Studie an 577 Patienten mit episodischer Migräne in der Anamnese senkte die monatliche Injektion von 70 mg Erenumab die Zahl der Schmerzattacken um 2,9 Tage gegenüber einem Rückgang um 1,8 Tage in der Placebogruppe. Unter der Behandlung mit Erenumab kam es bei Patienten mit chronischer Migräne (mindestens 18 Migränetage pro Monat) im Schnitt zu einem Rückgang von sechs bis sieben Tagen im Monat. 40 Prozent der Patienten berichteten von einer mindestens 50-prozentigen Besserung ihrer Migräne.
Bei Patienten, die an einer episodischen Migräne leiden (rund acht Migränetage pro Monat), ging die Zahl der Migränetage um etwa drei Tage zurück. Auch hier zeigte sich bei circa 40 Prozent der Studienteilnehmer eine Besserung der Migräne um mindestens 50 Prozent. Etwa 40 Prozent der Patienten erreichten mit Erenumab eine Halbierung der Schmerzattacken gegenüber etwa 30 Prozent in der Placebogruppe. In Europa soll das Mittel nur bei Patienten eingesetzt werden, die mehr als vier Schmerzattacken im Monat haben. Ein sparsamer Einsatz wird sich allein aus den hohen Kosten ergeben. In den USA kostet die Behandlung derzeit 6.900 US-Dollar pro Jahr.
Doch für den Behandlungserfolg müssen die Rahmenbedigungen stimmen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat jüngst den Zusatznutzen des CGRP-Rezeptor-Antikörpers analysiert. Dabei fand das Institut nur für Patienten unter „best supportive care“ einen Hinweis auf einen beträchtlichen Zusatznutzen.
Der Humanarzneimittelausschuss der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hat einen weiteren Antikörper bei episodischer und chronischer Migräne zur Zulassung empfohlen. Galcanezumab ist damit, neben Erenumab, bereits der zweite CGRP-Antikörper, der zur Migräne-Prophylaxe eingesetzt werden könnte.
Beide Wirkstoffe greifen in das CGRP-System ein. Allerdings haben die Antikörper unterschiedliche Ziele: Erenumab bindet an den CGRP-Rezeptor, während Galcanezumab direkt das CGRP abfängt.
Die Herstellerfirma Lilly untersucht Galcanezumab nicht nur bei Migräne, sondern hat im Mai 2018 auch die Ergebnisse einer Phase-III-Studie zur Behandlung des episodischen Clusterkopfschmerzes veröffentlicht. Galcanezumab erreichte den primären Endpunkt und reduzierte die wöchentlichen Kopfschmerztage gegenüber Placebo signifikant. Bei chronischem Clusterkopfschmerz konnte Galcanezumab jedoch nicht überzeugen.
Zehn Studien, die die vier Antikörper mit 5817 Teilnehmern untersuchten, wurden in eine Metaanalyse von Xu et al. aufgenommen.
Schwere Nebenwirkungen oder ein Rückzug aufgrund von Nebenwirkungen waren nicht signifikant mit der Behandlung monoklonaler Antikörper verbunden. Die Injektionsstellenschmerzen und das Erythem waren in der Behandlungsgruppe der Calcitonin-Gen-bezogenen peptidbindenden monoklonalen Antikörper signifikant höher als in der Placebogruppe.
Die Raten schwerer Nebenwirkungen waren in der 120 mg-Gruppe von Galcanezumab signifikant höher. Das Erythem der Injektionsstelle trat mit Galcanezumab 120 mg und 240 mg auf. Injektionsstellenschmerzen und Nasopharyngitis waren mit Galcanezumab 150 mg verbunden.
Die gesamten Nebenwirkungen waren mit 70 mg und 140 mg Erenumab signifikant höher. Die behandlungsbedingten Nebenwirkungen waren signifikant höher mit Fremanezumab 225 mg/Monat und 675 mg/Quartal.
Erenumab wird alle vier Wochen gespritzt. Je nach Dosierung liegen die monatlichen Kosten bei 688 Euro (70 mg), beziehungsweise 1377 Euro (140 mg). Damit schägt eine Jahrestherapie mit 8.260 bis 16.521 Euro zu Buche. Zum Vergleich: Die kostengünstigste Therapie mit Flunarizin kostet jährlich zwischen 88 und 135 Euro, die vormals teuerste Behandlungsmethode mit Botulinumtoxin zwischen 2.637 und 3.292 Euro. Der Einsatz von Erenumab steht somit in puncto Kosten noch deutlich über dem bisherigen Spitzenreiter Botox.
Auch deswegen empfehlen Experten, eine Therapie mit Botulinumtoxin vor dem Einsatz des Antikörpers immer auszuprobieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist hier der sogenannte Schwarz-Weiß-Effekt der Wirkung. Noch ist völlig unklar, warum Erenumab und Botox entweder sehr gut oder gar nicht wirken. Es ist daher ratsam, zunächst das kostengünstigere Medikament auszuprobieren.
Weiterhin muss auch die Bildung möglicher Anti-Drug-Antikörper berücksichtigt werden. In der STRIVE-Studie bildeten knapp 6 Prozent der Probanden Anti-Erenumab-Antikörper, von denen unklar ist, wie sie die Wirkung beeinflussen. Das Phänomen ist zum Beispiel von der Hämophilie-A-Therapie bekannt. Bei rund 25 Prozent der schweren Fälle findet man inhibitorische Antikörper gegen Blutgerinnungsfaktor-VIII-Präparate.
Die Anwendungsempfehlung ist bei beiden Wirkstoffen ähnlich. Für die Antikörper gilt: Bei epsiodischer Migräne sollten zuvor vier, bei chronischer Migräne sechs Alternativmittel angewendet worden sein. Erst, wenn die genannte Zahl erfolglos bleibt oder eine (weitere) Therapie kontraindiziert ist, soll die Behandlung mit Erenumab erwogen werden. Für die Dauer der Anwendung gibt die Leitlinie die selben Empfehlungen wie für andere Mittel zur Migräne-Prophylaxe. Patienten testen ein Medikament zwischen sechs und zwölf Monaten und setzen dann aus. So kann festgestellt werden, ob das Mittel noch gebraucht wird oder nicht.
Artikel von Matthias Bastigkeit
Bildquelle: Nik Shuliahin, Unsplash