Deutschlands Ärzte werden immer älter, eine Obergrenze gibt es für Selbstständige nicht. Manche Kollegen sehen sich gezwungen, weiter zu praktizieren, da sie keinen Nachfolger finden. Andere verpassen den richtigen Zeitpunkt, sich zurückzuziehen. Wann ist es Zeit, zu gehen?
Dr. Jonathan Maltz, ein Allgemeinmediziner aus Olney (Maryland), war Ende 60, als sein 72-jähriger Kollege beschloss, die Gemeinschaftspraxis zu verlassen. „Schon vorher hatten mich Patienten angesprochen, wann ich in den Ruhestand gehe“, schreibt er in der Washington Post. Er kam ins Grübeln und beschloss, seine Praxis zu verkaufen. Doch ganz zur Ruhe will sich Maltz nicht setzen, er arbeitet immer noch stundenweise. Warum fällt es Kollegen oft schwer, loszulassen? Die Gründe sind vielfältig – und lassen sich direkt auf unser System übertragen.
Senioren schließen Versorgungslücken
Dazu ein Blick auf Statistiken. Der demographische Wandel macht auch vor Ärzten nicht Halt. Im nächsten Jahrzehnt werden ein Drittel aller US-Ärzte mindestens 65 Jahre alt sein. Deutschland hat mit ähnlichen Trends zu kämpfen. Laut Ärztemonitor 2018 liegt das durchschnittliche Alter von Fach- oder Hausärzten im KBV-Bereich bei 54,1 Jahren. 28 Prozent haben den 60. Geburtstag schon erreicht, während knapp 19 Prozent unter 35 sind.
Einschränkungen gibt es für sie nicht mehr. Rückwirkend zum 1. Oktober 2008 wurde die sogenannte 68er-Regelung, historisch ein Wunsch berufsständischer Verbände aufgrund der damaligen Ärzteschwemme, wieder abgeschafft. Vertragsärzte durften zuvor nur bis zu ihrem 68. Geburtstag praktizieren und verloren danach ihre Kassenzulassung. Gebe es diese Regelung heute noch, wäre der Ärztemangel noch dramatischer, schreibt ein Kollege bei DocCheck.
Zu ähnlichen Einschätzungen kommt ein Apotheker: „Gerade der ländliche Raum ist leider auf diese älteren Ärzte angewiesen, da es nicht genug junge Nachfolger gibt.“ Eine Gemeinschaftspraxis in der Region mit zwei Ärzten werde jetzt von einem Kollegen betrieben, eine andere Praxis habe schließen müssen. Wer weiter praktiziert, übernimmt auch mehr Arbeit. Und in der nächsten Kleinstadt kam sogar eine Kollegin aus dem Ruhestand zurück, nachdem der Klapperstorch mehrmals zugeschlagen hatte – freiwillig, versteht sich. Viele Ärzte empfinden die eigene Tätigkeit als Berufung, nicht als Belastung.
Spaß am Beruf
Das bestätigen gleich zwei User gegenüber DocCheck: „Als Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapeutin habe ich mich auf sexuelle Störungen spezialisiert und arbeite gerne, denn ich arbeite in meinem Traumberuf und meine Kompetenz ist mit der Zeit meiner Berufserfahrung immer grösser geworden“, schreibt eine Kollegin. „Meine Arbeit ist auch deshalb für mich und meine Patienten eine Bereicherung. Ich habe vor, solange zu arbeiten, wie es mir Spaß macht und mir geistig und physisch möglich ist.“
Hier handelt es sich um keinen Einzelfall. „Ich bin Psychotherapeut in eigener Praxis und bin in diesem Jahr 72 geworden“, bestätigt ein anderer Leser im Kommentar. „Noch macht mir der Beruf Freude, aber meine Tendenz ist in etwa zwei bis drei Jahren aufzuhören, auch wenn's noch Spaß macht.“
Keiner will die Praxis übernehmen
Nicht immer sind die Beweggründe so positiv. Gut laufende Einzelpraxen leben von Privatpatienten, aber nicht vom GKV-System. Auch die Wünsche junger Kollegen haben sich geändert. Laut Analysen der Deutschen Apotheker- und Ärztebank sehen Frauen ihre Zukunft am liebsten angestellt im medizinischen Versorgungszentrum, in Teilzeit und in einer mittelgroßen bis großen Stadt. Männer bevorzugen selbständige Tätigkeiten in Berufsausübungsgemeinschaften, würden gerne in Vollzeit arbeiten, und zwar in einer mittelgroßen Stadt. Einzelpraxen, die jenseits von Gut und Böse liegen, sind zum Auslaufmodell geworden.
Selbst bei möglichen Übergaben klebt der Senior fest am Sessel. „Mein ehemaliger Hausarzt ist auch über 70 und arbeitet immer noch“, berichtet ein Chemiker. „Ich finde das etwas unfair den jungen Kollegen gegenüber.“ Erfahrung müsse man nicht horten, sondern besser weitergeben. Ein Oralchirurg teilt seine Kritik nicht: „Wenn die jungen Kollegen das Risiko der Selbständigkeit scheuen und die soziale Absicherung als Angestellte nicht aufgeben wollen, dann muss der Alte bleiben, und sei es auch nur als "Frühstücksdirektor", damit die Praxis bestehen bleibt und nicht eine weitere Versorgungslücke entsteht.“
Tauglichkeitstests für ältere Ärzte
Das Engagement ältere Ärzte ist lobenswert, kann aber auch schnell zu gefährlichen Situationen führen. „Der Zahnarzt meiner Eltern, wohl in den Siebzigern, bat meinen Vater, doch den Kopf bei der Behandlung still zu halten“, so eine Physiotherapeutin zu DocCheck. „Wer da zitterte war jedoch nicht mein Vater, sondern der Zahnarzt selbst.“ Wie bei anderen Berufen sei es je nach eigener Gesundheit unterschiedlich, wann man aufhören sollte.
Extreme Beispiele finden sich in der Medizingeschichte. Ferdinand Sauerbruch (1875 bis 1951) vollbrachte Pionierleistungen als Chirurg. Im Alter litt er an einer Zerebralsklerose, also einer Durchblutungsstörung des Gehirns, und soll bei OPs etliche Fehler gemacht haben. Nachdem er Darm und Magen eines krebskranken Mädchens nicht wieder zusammennähte, zwang ihn das Zentralkomitee der SED mit 74 Jahren zur Emeritierung. Die Charité, seine Wirkungsstätte, lag in Ostberlin. Sauerbruch operierte privat weiter, teils ohne Anästhesie, teils ohne Bezug zur eigentlichen Erkrankung. Erst ein Schlaganfall beendete sein ärztliches Schaffen.
„Mit dem Alter Ihres langjährigen Arztes kann es passieren, dass Sie sich fragen, ob Ihr Arzt noch kompetent und auf dem neuesten Stand der besten Praktiken ist oder ob es an der Zeit ist, eine vertraute Beziehung zu beenden und jemanden Jüngeren zu suchen“, bestätigt auch Maltz. Er berichtet von verpflichtende Tests für ältere Kollegen im klinischen Bereich. Sie müssen allgemeine, kognitive und motorische Tests über sich ergehen lassen. Niedergelassene betrifft das nicht. Deshalb rät Maltz allen Patienten, speziell bei älteren Ärzten auf Zittern, Vergesslichkeit oder Verhaltensänderungen zu achten. Reicht das wirklich aus?
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