Ich habe die sogenannte „Homöopathie-Deklaration“ gelesen, die seit längerem durch das Internet wandert. Von klassischen Denkfehlern und warum es so wichtig ist, miteinander zu streiten.
Eine in der „Deutschen Zeitschrift für Onkologie“ veröffentlichte Stellungnahme zur Homöopathie des Arztes Peter Matthiessen brachte mich unlängst zum Grübeln. Die zentrale Forderung lautet: „Es wird aufgezeigt, dass eine vollorchestrierte Gesundheitsversorgung, die den individuell unterschiedlichen Bedürfnissen und Präferenzen der Bevölkerung zu entsprechen sucht, eine Integrative Medizin als ein zwar kritisches, aber unvoreingenommenes Kooperationsgefüge zwischen Mainstreammedizin und ausgewählten komplementärmedizinischen Ansätzen zu seiner Grundlage bedarf.“
Bevor ich auf diese Stellungnahme argumentativ eingehe, einige Informationen zum Autor: Matthiessen ist emeritierter Professor für Komplementärmedizin und Medizintheorie, Mitgründer der Universität Witten/Herdecke und des „Dialogforums Pluralismus in der Medizin“. Grade für die Mitgründung von Witten/Herdecke bin ich ihm, trotz unterschiedlicher Ansichten, zu Dank verpflichtet, denn insbesondere in Bezug auf die Pädagogik werden von hier aus immer wieder sehr wichtige Impulse in die medizinische Gemeinschaft gegeben.
Matthiessen ist seit jeher ein Fürsprecher der Homöopathie und das genannte Dialogforum hat zum Ziel, die sogenannte Schulmedizin mit der sogenannten Alternativmedizin zu versöhnen. Schaut man auf deren Homepage, finden sich auch schnell einige wirklich schöne Gedanken, etwa Publikationen zur zeitlichen Kultivierung der Patienten-Arzt-Begegnung. Also eben jenen Dingen, die in unserer sehr pharmazeutisch geprägten und oftmals sehr invasiven Medizin einen größeren Stellenwert einnehmen sollten. Bei seiner Stellungnahme zur Homöopathie aber verrennt sich Matthiessen gewaltig.
„Beim Informieren der Öffentlichkeit über die therapeutische Wirksamkeit der Homöopathie sollten nicht vorgefasste subjektive Überzeugungen leitend sein, sondern die Bereitschaft zur intellektuellen Redlichkeit", lautet ein Schlüsselsatz, der den Duktus von Matthiessens Deklaration verdeutlicht. Des Weiteren ist von „einer bewussten Stimmungsmache gegen die Homöopathie“ in Form von Ignoranz und wissenschaftlichen Fehlinformationen die Rede. Inhaltlich wurde der Text schon von vielen Sachkundigen besprochen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Was mich vielmehr interessiert, sind die Grundannahmen hinter den Argumenten, denn diese sind ja der heimliche Streit- und vor allem der Rückzugspunkt, wenn es mit den klassisch wissenschaftlichen Argumenten nicht klappen sollte.
Die zwei Kernelemente der Stellungnahme sind die Betonung der Freiheit der Wissenschaft und der scheinbare Wunsch der Bevölkerung nach einer „vollorchestrierten Gesundheitsversorgung“. Der erste Punkt bezieht sich vornehmlich auf das Grundgesetz. In Artikel 5, Matthiessen schreibt hier fälschlicherweise von Paragraf, wird die Freiheit von Meinung, Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre geregelt. Ein wichtiges Gut, bedenkt man, dass das Grundgesetz unter dem Eindruck der Naziverbrechen gestaltet worden ist.
Wenn der Autor jedoch ein von ihm als verbotenes „Wissenschaftsrichtertum“ des Staates bezeichnete Rechtsgut anführt, vermengt er ohne Not Meinungsfreiheit mit der Freiheit der Wissenschaften. Wissenschaft definiert sich seit jeher selbst über grundsätzliche epistemologische, also erkenntnistheoretische, Fragestellungen. Der Staat folgt dann im weitesten Sinne der jeweils praktikabelsten und im Idealfall auch der ethisch vertretbarsten Position.
Dabei ist eben die Frage danach, woher wir unser Wissen haben, eine wichtige und diese Frage zu stellen, ist gute philosophische Praxis. Wenn wir diese Frage jedoch in der Alltagspraxis allzu pluralistisch beantworten, kommen wir in Teufelsküche.
In vielen Bereichen, die uns alle betreffen, haben wir uns auf einen gemeinsamen Realitätsentwurf geeinigt: Wir berechnen die Statik von Brücken mit einer Mathematik, die sich als zuverlässig erwiesen hat, wir fliegen mit Flugzeugen, weil wir auf den Auftrieb vertrauen und wir behandeln Kranke mit der jeweils bestverfügbaren Evidenz in Kombination mit der klinischen Erfahrung des Behandlers. Das Dialogforum, das ich eben noch für das ein oder andere Thema gelobt habe, verweist zu solchen Fragen unter anderem auf die Cognition-based Medicine (CbM), also einem Betrachtungsverfahren, das sich auf die Gestalttheorie Karl Dunckers beziehen und anhand von vor allem korrelativer Kriterien einen Wirksamkeitsnachweis am individuellen Patienten ermöglichen soll. Inhaltlich verkürzt ausgedrückt soll das Urteil eines Arztes ausreichen, um einen individuellen Wirksamkeitsnachweis zu erbringen und eben nicht die doppelverblindete, groß angelegte Studie.
Was nun kommt, ist radikal und mir ist bei diesem Beispiel nicht wohl, denn ich weiß, dass das Thema sensibel ist. Dennoch halte ich es für sinnvoll, jede Theorie in ihren Extremen zu denken, um ihre Schwachstellen zu finden.
Vor einigen Wochen habe ich von einer Vergewaltigung gelesen, die nur mit einer DNA-Analyse aufgeklärt werden konnte. Eine gute und wichtige Technologie für die Forensik. Stellen wir uns aber einmal vor, wir würden unseren Erkenntnisprozess so weitreichend hinterfragen, wie es eben jener Wissenschaftspluralismus fordert. Würde nun auch ein einzelner medizinischer Gutachter ausreichen, der aufgrund seiner „klinischen Erfahrung“ und korrelativer Kriterien einem Unschuldigen eine Vergewaltigung zuordnet, weil er es kognitiv für möglich hält und er seine Expertise ins Spiel bringt? Vor der DNA-Analyse, die auch noch kein perfektes Verfahren ist, gab es solche Fälle durchaus öfter. Nicht selten trafen sie, wie in den amerikanischen Südstaaten, die Opfer von Vorurteilen und Ausgrenzung. Denn wir Menschen neigen zu Denkfehlern.
Diese Denkfehler sind übrigens auch der Grund, wieso der Wunsch der Bevölkerung nach „einer vollorchestrierten Gesundheitsversorgung“ ein unheimlich schwaches Argument ist. Wissenschaft ist kein „Wünsch-Dir-Was“. Was passiert, wenn Menschen mit bestimmten Vorurteilen und Glaubenssätzen einfach so Erklärungsmodelle „demokratisch abstimmen“, sehen wir jedes Mal, wenn ein Tiger getötet wird, um aus seinen Krallen eine „Arznei“ zuzubereiten oder Bären in kleine Käfige gesperrt werden, um ihre Galle für „Heilungszwecke“ zu „melken“.
Wir müssen weiter über erkenntnistheoretische Fragen streiten. So gehört es sich. Aber jedes Modell direkt in unsere Lebenspraxis integrieren? Das wäre nicht nur fraglich, sondern auch gefährlich.
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