Es wird viel über die Dokumentation und Bürokratie geschimpft, die der Arzt in seiner Praxis bewältigen muss. Wir werden zu „Zettel-Schubsen“, die Dokumentation raubt uns Zeit. Warum ich sie trotzdem gut und wichtig finde – teilweise.
Es wird viel über die notwendige Dokumentation in Arztpraxen geschimpft: ist zu viel, nimmt uns die Zeit mit den Patienten. Das stimmt und trotzdem können wir keinesfalls auf das Aufschreiben wichtiger Informationen verzichten.
Ich möchte zum Beispiel keine Alimente zahlen, weil ich eine Patientin mit Magen-Darm-Infekt nicht nachweislich darüber aufkläre, dass ihre Verhütungspille eventuell nicht richtig wirkt. Und auch die Kollegen freuen sich, wenn sie die Behandlung meiner Patienten nachvollziehen können, falls ich mal nicht da bin.
Bei der schriftliche Dokumentation unserer Arbeit müssen also sehr verschiedene Aspekte berücksichtigt werden: In einigen Bereichen ist sie verpflichtend. An andere Stelle ist sie notwendig, um ein guter Arzt zu sein. Und dann gibt es Situationen, in denen wir uns sehr genau überlegen müssen, was wir da eigentlich aufschreiben.
Ich arbeite in einer Gemeinschaftspraxis mit zwei (manchmal drei) anderen Ärzten. Pro Vollzeitstelle versorgen wir ca. 1.100 Patienten pro Quartal. In der extremen Infekt-Saison Anfang 2018 waren es auch mal 1.200 Patienten. Das Problem: Bei dieser Menge an Patienten kann man nicht mehr alle Details von jedem Patienten im Kopf behalten. Wenn jeder Arzt an einem Vormittag über 50 Patienten sieht, weiß er nachher wahrscheinlich nicht mehr genau, ob es jetzt Herr Meier oder Herr Schmidt war, der den Durchfall mit Fieber oder ohne hatte.
Diese Infos muss man einfach aufschreiben. Fertig. Ich habe mir angewöhnt, gerade in solchen Stressphasen auch immer darauf zu achten, dass ich aufschreibe, was nicht vorhanden war (also auch „kein Fieber, kein Nachtschweiß“), damit ich nachher auch sicher bin, dass ich es wirklich gefragt habe. Bei drei Ärzten kann es auch mal sein, dass ein Patient mal vom einen, mal vom anderen Arzt gesehen wird, spätestens in der Urlaubszeit. Dann muss mein Kollege nachvollziehen können, warum ich was wie gemacht habe und wie ich weiter vorgehen wollte. Sonst muss er raten und ann sind Missverständnisse vorprogrammiert.
In die Kategorie medizinische Dokumentation fallen also Aspekte wie Symptomart, Dauer, Beginn, aktuelle Symptomatik, Therapie akut und gegebenenfalls geplant.
Aber: Wer hält diese Informatione fest? Am besten ich selbst, weil ich genau weiß, was mir wichtig ist und welche Punkte berücksichtigt werden sollen. Dann muss ich aber meine Aufmerksamkeit zwischen dem Tippen und dem Patienten aufteilen, was auch die Kommunikation stören kann (siehe dazu auch den Kommentar von Kirsten Metscher unter diesem Artikel). Wenn ich aber erst danach dokumentiere, kann ich etwaige fehlende Aspekte nicht mehr erfragen, brauche außerdem die doppelte Zeit und laufe dabei Gefahr, Wichtiges zu vergessen.
In unserer Praxis ist deswegen bei jedem Arzt eine medizinische Fachangestellte dabei, die für uns dokumentiert. Es kann, je nach Problem des Patienten, auch unangenehm sein, wenn noch zwei Ohren mithören. Aber es erlaubt mir, mich komplett auf den Patienten zu konzentrieren. Vorausgesetzt, ich kenne die MFA gut genug und weiß, dass sie die relevanten Aspekte miteinbezieht.
Dieser Lernprozess dauert etwas. Anfangs gab es durchaus Irritationen darüber, dass ich auch diese Dokumentation von Nicht-Symptomen wollte, also kein Fieber, keine Einnahme von Kontrazeptiva. Inzwischen klappt es eigentlich ziemlich gut und ist daher momentan auch meine bevorzugte Variante der Dokumentation. Wenn aber das Personal knapp ist, schreib ich selbst mit.
Es kann durchaus sein, dass sich auf Dauer das elektronische Diktieren noch mehr durchsetzt, aber da sehe ich noch einige Probleme. Ich tippe zum Beispiel fast genauso schnell, wie ich spreche, also ist die Zeitersparnis marginal.
Wenn ich gezielt diktiere, wende ich meine Aufmerksamkeit vom Patienten ab, da hilft es mir also auch nicht. Und ich müsste definitiv Korrektur lesen. Erst kürzlich bekam ich einen Arztbrief, in dem ein Patient einen „deutschen Druckschmerz im Oberbauch“ bescheinigt bekam. Da hat der Kollege wohl genuschelt, als er den „deutlichen Druckschmerz“ diktiert hat.
Auch aus juristischer Sicht ist es wichtig, meine Arbeit schriftlich festzuhalten. Wenn ich beispielsweise bei einem Patienten ein Schlaf-Apnoe-Syndrom vermute, muss ich ihn darüber aufklären, dass seine Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sein könnte. In der Dokumentation muss vermerkt sein, dass ich den Hinweis gegeben habe. Ebenso die immer weiter ausufernde notwendige Aufklärung über medikamentöse Nebenwirkungen. Das hat sicherlich auch etwas mit dem medizinischen Sachverhalt zu tun, aber vor allem geht es dabei um rechtliche Absicherung. Und die wird immer wichtiger.
Wenn ich eine Patientin mit Magen-Darm-Infekt nicht darüber aufkläre, dass die Verhütungspille dann gegebenenfalls nicht richtig wirkt, kann ich alimentenpflichtig werden. Die Haftpflichtversicherung hält sich übrigens aus einem solchen Fall raus, weil ein Kind ja kein Schaden im Sinne der Haftpflicht ist. Also zahle ich Alimente aus eigener Tasche. Ich liebe Kinder, aber sowas muss nicht sein. Also: Dokumentieren.
Außerdem gibt es noch die Formular-Dokumentation. Man hat in Deutschland gefühlte 1.000 Formulare und Bescheinigungen, die Patienten brauchen können. AU-Bescheinigungen kommen mit Abstand am häufigsten vor. Die wenigsten anderen Scheine sind schön schnell auszufüllen.
Das Formular für Physiotherapie ist zwar auch kurz, mit seinen seltsamen Kürzeln und Vorgaben aber umständlich auszufüllen. Formular 61 für eine Rehabilitationsbehandlung ist besonders umfangreich. Oder die Formulare, die vor Beginn einer Psychotherapie von uns Hausärzten ausgefüllt werden sollen. Oder die Formulare vom Arbeitsamt.
Manche Formularinhalte sind auch sehr skurril. Sie sind zwar dann immer noch nervig, aber irgendwie muss man doch drüber lachen. Da gab es zum Beispiel die Bescheinigung für meinen Patienten, dass es medizinisch zu verantworten sei, wenn er nach Abschluss der Chemotherapie noch für ein paar Tage in Deutschland Urlaub in einem Wellness-Hotel macht, bevor er wieder seiner regulären Arbeit nachgeht. Oder die Bescheinigung, dass es für einen anderen Patienten wünschenswert ist, dass seine Familie mit ihm in Urlaub fährt. Und so weiter.
Diese letzte Kategorie, die Formular-Dokumentation, ist diejenige, die mich mit Abstand am meisten nervt. Häufig geht es gar nicht um wirklich medizinische Entscheidungen, sondern um Kostenübernahmen, korrektes Ausfüllen, Rückfragen von Krankenkassen und so weiter. Da kommt man sich wirklich nicht mehr wie ein Arzt vor, sondern wie eine „Zettel-Schubse“ und fragt sich, ob diese Arbeit so kompliziert sein muss.
Es kommt aber noch komplizierter: Ich hatte zuletzt Versicherungsanfragen, bei denen es nicht mehr um auszufüllende Formulare ging, sondern wir „nur einfach eben die Karteikarte ausdrucken sollten.“ Meistens direkt mit der Schweigepflichtsentbidung des Patienten. Das kommt klassischerweise vor, wenn es um den Abschluss einer Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung geht. Natürlich unterschreibt der Patient eine Schweigepflichtsentbindung, sonst kriegt er ja erst recht keine Versicherung.
Erstmal klingt das ja gut: Kein Formular ausfüllen, einfach nur ausdrucken, was man eh schon geschrieben hat. Jetzt kommt aber das Problem.
In der Karteikarte steht dann wirklich alles drin. Da steht also auch drin, dass Herr Pietrusky sich vor sechs Jahren mal wegen Rückenproblemen gemeldet hatte, nachdem er einem Kumpel beim Umzug geholfen und sich an seinem uralten Schrank verhoben hat. Keine wirkliche Dauerdiagnose, einfach ein akutes und einmaliges Problem. Nach Untersuchung und Aufklärung über die Therapie (Wärme, lockere Bewegung, ein paar Tage abwarten) war dauerhaft Ruhe.
Aber wenn irgendwo das Wort „Rücken“ in den Beschwerden auftaucht, kann er eine Berufsunfähigkeitsversicherung sofort vergessen.
Auch die Dokumentation einer Lebenskrise kann jemanden sofort aus einer Versicherung katapultieren. Nehmen wir an, jemand hat ein wirklich schlimmes Jahr gehabt. Die Eltern haben sich getrennt, der beste Freund hatte einen schweren Autounfall, im Ausbildungsbetrieb gibt es Probleme und dann wurde der Patient auch noch von seiner Freundin verlassen. Er ist verständlicherweise völlig fertig und sitzt weinend vor mir und ich muss jetzt eine Diagnose kodieren.
Eigentlich wäre das für mich ein Fall für die F43.0, Akute Belastungsreaktion. Laut ICD-Code heißt das: „Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt.“
Ich habe aber mehr als einmal mitbekommen, dass der Patient nach solchen Diagnosen keine Berufsunfähigkeitsversicherung oder Lebensversicherung bekam – obwohl der Code ja bedeutet, dass es eine vorübergehende Störung bei einem nicht manifest gestörten Menschen ist. Und wenn man einmal irgendwo abgelehnt wurde, muss man das bei der nächsten Versicherung angeben. Es ist also eine eigentlich harmlose Diagnose, die aber weitreichende Wirkung haben kann. Falls nämlich der Patient die Diagnose irgendwie verschweigt und die Versicherung erfährt davon, kann er auch noch Jahre später, selbst im Leistungsfall, aus der Versicherung ausgeschlossen werden.
Wie kann man es also regeln? Man müsste sich schon mal zusammensetzen und überlegen, wo ein sinnvoller Kompromiss gefunden werden kann. So, wie es jetzt ist, nimmt es definitiv zu viel Zeit, die man dann nicht für den Patienten hat. Aber wenn zeitsparende Varianten wie das oben erwähnte Karteikartenausdrucken einen massiven Nachteil für den Patienten darstellen können, ist das keine Lösung.
Ich bin also für Vorschläge dankbar. Bis dahin werde ich erstmal so weitermachen wie bisher – so viel aufschreiben wie nötig und so wenig wie möglich. Außerdem werde ich auch weiterhin sämtlichen medizinischen Fachangestellten und jungen Ärzten denselben Tipp geben: Lernt 10-Finger-Schreiben. Das erleichtert das Leben massiv.
Bildquelle: Samuel Zeller, unsplash