Bei der Diagnose ALS geben Patienten schnell auf – und manchmal auch ihre behandelnden Ärzte. Davon berichtet ein Neurologe der Berliner Charité. Er ist der Meinung, man könne viel für ALS-Patienten tun und erzählt, wie er sie auf ihrem Weg in ein neues Leben begleitet.
Eine Patientin leidet an fortschreitender Muskelschwäche in den Händen. Ihr niedergelassener Neurologe ist sich unsicher mit der Diagnose. Er schickt sie mit Verdacht auf Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) in die Charité. Dort lernt die Patientin Prof. Dr. Thomas Meyer kennen, der in der Ambulanz für ALS und andere Motoneuronenerkrankungen arbeitet. „Im ersten Moment dachte sie, man könne bei ALS nichts machen“, sagt der Neurologe zu DocCheck. Er und sein Team betreuen rund 700 Menschen mit ALS. „Man kann nichts machen – das denkt aber auch so mancher Arzt“, weiß Meyer. „Für uns ist ALS eine Erkrankung mit fatalem Verlauf, bei der wir trotzdem viel für unsere Patienten tun können.“ Als wichtigste Ziele nennt er die Lebensverlängerung, die Kontrolle von belastenden Symptomen und die Teilhabe am Leben. Wie geht ein Neurologe, der nicht mehr heilen kann, vor?
Beim nächsten Termin fuhr sein Patient selbst mit einem Elektrorollstuhl in die Ambulanz und konnte wieder kommunizieren. Er nutzte einen Sprachcomputer, der sich mit den Augen steuern lässt. Die Atemanstrengung konnte durch eine nächtliche nichtinvasive Beatmung erfolgreich gelindert werden. „Wir erreichen Verbesserungen durch zahlreiche Maßnahmen: Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Hilfsmittel, Ernährungstherapie und Beatmungsversorgung“, fasst Meyer zusammen. „Je größer die Einschränkung durch ALS ist, desto größer ist auch die Bedeutung von scheinbar kleinen Verbesserungen.“ Dies sei gesunden Menschen oft nicht bewusst.
Doch wie gehen Meyer und seine Kollegen in der Praxis vor? Claudia K., wie oben beschrieben, traf bei ihrer Erstvorstellung in der Ambulanz zunächst auf eine „ALS Nurse“, die als Pflegefachkraft und Koordinatorin auf ALS spezialisiert ist. Sie erfasste Claudias Vorgeschichte und führte Messungen durch. Später kam eine ALS-erfahrene Fachärztin für Neurologie dazu. Sie untersuchte die Patientin, führte weitere Tests durch, sicherte die Diagnose und plante das Versorgungskonzept – angepasst für die Symptome und Beschwerden von Claudia K. Anschließend rief die Neurologin Thomas Meyer.
Er bekam wichtige Informationen, machte sich selbst ein klinisches Bild und diskutierte im Beisein des Betroffenen die Diagnose, die individuelle Prognose und das Behandlungskonzept. In dieser Zeit hörte Claudia K. zu, ohne reden zu müssen. Anschließend wendeten sich die Ärzte ihrer Patientin zu, und der Dialog begann. Meyer bestätigte die Diagnose einer ALS und erklärte individuelle Besonderheiten, denn ALS kann sehr unterschiedlich verlaufen. Bei Claudia K. lag eine langsamere Verlaufsform vor. Er gab Informationen zur Prognose („Ihre ALS verläuft halb so schnell, gemessen am mittleren Verlauf anderer Patienten“), machte aber auch deutlich, dass es sich um eine unheilbare Erkrankung handelt.
Claudia K. hatte noch viele Fragen an Meyer und sein Team: zur Entstehung von ALS („Warum ich?“), zur Genetik der Erkrankung („Ist ALS erblich?), zu Ratschlägen aus der Laienpresse („Soll ich alle Amalgamfüllungen entfernen lassen?“) oder zur Ernährung („Welche Diät würden Sie empfehlen?“). Hier mussten erst ein paar falsche Ansichten zurechtgerückt werden.
Danach schlug Meyer vor, welche Maßnahmen aus seiner Sicht mit Priorität zu treffen sind – und klinkte sich aus. Claudia K. blieb mit der Fachärztin zurück. In der Situation stellte die Patientin noch weiteren Fragen, die in „großen Runden“ nicht angesprochen wurden. Anschließend verabschiedete sich die Neurologin, und die „ALS Nurse“ kehrte zurück. Und siehe da: Die Patientin hatte tatsächlich noch weitere Fragen. „Alles in allem schaffen wir eine traditionelle Visitensituation wie in einem Krankenhaus; wir senken durch unterschiedliche Gesprächssituationen die Hemmschwelle, weiter nachzufragen und alles anzusprechen “, erläutert Meyer.
Warum Meyer und seine Kollegen selbst bei der unheilbaren Erkrankung ALS viel erreichen, hat nicht nur medizinische, sondern auch strukturelle Gründe. Gemessen an der Zahl von 8.000 Betroffenen in Deutschland gibt es zu wenige ALS-Experten. „Nur 20 Prozent aller ALS-Patienten werden in spezialisierten Zentren behandelt“, kritisiert der Experte. Außerhalb der Zentren besteht recht wenig Wissen zu Hilfsmitteln. „Das ist auch wenig verwunderlich. Als Ärzte haben wir per se keine Ausbildung zu Hilfsmitteln, weder im Medizinstudium noch in der Facharzt-Ausbildung.“
Wer bei einem ambulanten Neurologen in Betreuung ist, erhält zwar eine leitliniengerechte Behandlung, aber welcher spezielle Elektrorollstuhl oder welches Kommunikationsgerät am besten geeignet ist, wissen Kollegen vor Ort nur selten. Dabei sei gerade dieses Thema so wichtig, sagt Meyer: „Teilhabe, unterstützt durch Hilfsmittel, ist die wichtigste Dimension bei ALS, dafür fehlt Neurologen aber die tägliche Erfahrung und Expertise.“ Dieses Problem ist auch den Neurologen bewusst. Daher überweisen Facharzt-Kollegen ihre Patienten gerne an spezialisierte Zentren wie die ALS-Ambulanz der Charité. Umgekehrt sucht Meyer den engen Kontakt mit den Kollegen in der Praxis, um eine optimale Versorgung zu erreichen.
Doch zurück zu Claudia K. Sie hat in der Ambulanz nicht nur die Bestätigung der Diagnose erhalten, sondern eine neue Perspektive erfahren, trotz der ALS am Leben teilzuhaben. „Wir sind zufrieden, wenn wir es schaffen, in einer extrem schwierigen Lebenssituation Verbesserungen zu erzielen“, sagt Meyer. „Und da haben wir auch viel Erfolg.“ Davon zeugt auch die Dankbarkeit vieler Patienten, Angehörigen und Hinterbliebenen. Meyers Ambulanz finanziert sich zu 70 Prozent über Spenden und sonstige Drittmittel. Sein Versorgungskonzept wird in unserer Vergütungssystematik nicht abgebildet. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich das in Zukunft ändern könnte.
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