Jahrelang wurde ein dementer Mann per Magensonde am Leben gehalten. Nach seinem Tod verklagte sein Sohn den Arzt wegen medizinisch unnötiger Lebensverlängerung. Nun entschied der Bundesgerichtshof für den Arzt und gegen den Kläger. Dabei wichen die Richter wichtigen Fragen aus.
Zur Vorgeschichte: Ein älterer Mann leidet an Demenz. Er kann auch nicht mehr kommunizieren und ist bewegungsunfähig. In den letzten zwei Jahren seines Lebens erkrankt er zusätzlich an Pneumonien und einer Cholezystitis. Ein niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin betreut ihn hausärztlich. Ab dem Jahr 2006 wird er mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. Er stirbt im Oktober 2011 im Alter von 82 Jahren. Danach zieht der Sohn des Verstorbenen vor Gericht.
Er verklagt den behandelnden Arzt und begründet sein Vorgehen wie folgt: Spätestens ab dem Jahr 2010 sei die künstliche Ernährung des Patienten nur noch eine „sinnlose Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten“ gewesen. Er wirft dem Mediziner einen Behandlungsfehler vor. Angesichts des gesundheitlichen Zustands, in dem sein Vater sich befand, sei das Legen einer Magensonde medizinisch nicht sinnvoll gewesen – eine Einschätzung, die sich auch in einer Bekanntmachung der Bundesärztekammer aus dem Vorjahr wiederfindet.
Aus Sicht des Klägers habe der Arzt seine Aufklärungspflicht versäumt: Über die Entscheidung für eine Sonde hätte der Sohn informiert werden müssen. Dieser lebte zu dem Zeitpunkt in den USA. Seiner Ansicht nach hätte der Arzt es dem Patienten ermöglichen müssen zu sterben, indem er die „Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen“ hätte.
Das Urteil „zur Haftung wegen Lebenserhaltung durch künstliche Ernährung“ (VI ZR 13/18) wurde gestern gefällt. Jetzt steht fest: Der Kläger bekommt nicht Recht. Das bedeutet auch, dass der Sohn des Verstorbenen finanziell leer ausgeht. Er hatte ein Schmerzensgeld von 40.000 Euro an den Vater gefordert, das er als Erbe erhalten hätte sowie eine Erstattung von Behandlungs- und Pflegeaufwendungen. Zuerst hatte das Landgericht München seine Klage im Januar 2017 abgewiesen. Im Dezember 2017 hatte allerdings das Oberlandesgericht München dem Kläger die Summe zugesprochen.
Letztendlich entschied der Bundesgerichtshof gegen die Auszahlung des Schmerzensgeldes. Dies teilte der BGH in Karlsruhe gestern in einer Pressemitteilung mit. Ob die künstliche Ernährung gegen den Willen des Mannes durchgeführt wurde, lässt sich nicht feststellen. Er hatte keine Patientenverfügung errichtet und auch sonst fand man diesbezüglich keine Hinweise auf eine Willensäußerung.
Ob der Angeklagte Pflichten verletzt habe, sei dahingestellt, heißt es im Schreiben des BGH. „Denn jedenfalls fehlt es an einem immateriellen Schaden. Hier steht der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen.“
Nicht einmal der Wunsch des Betroffenen selbst habe auf diese Entscheidung Einfluss, so der Text weiter: „Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben hat, verbietet die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden.“
Die durch das gefällte Urteil entfachte Diskussion birgt die Gefahr für Missverständnisse. Experten betonen, das Urteil müsse differenziert betrachtet werden. Es handelt sich um ein Grundsatzurteil. „Die Karlsruher Richter widmeten sich vor allem der Grundsatzfrage, ob ein menschliches Leben als Schadensposten in einem Zivilprozess anerkannt werden kann,“ schrieb das Juristenmagazin Legal Tribune Online (LTO). „Dass ein Leben einen ersatzfähigen Schaden darstellen soll, oft plakativ als ‚Leben als Schaden‘ oder ‚wrongful life‘ bezeichnet, lehnten die Richter […] nun ab.“
Für die Zukunft bedeutet das: Auch weiterhin wird es keine Schadenersatzklagen aufgrund „unnötiger“ Lebensverlängerung geben. Damit verbundenes Schmerzensgeld oder Aufwandsentschädigungen jeglicher Art an Angehörige sind ausgeschlossen.
Andere Fragen bleiben ungeklärt. Der BGH ließ offen, ob es sich um einen Behandlungsfehler des Arztes handelte. Dass der Arzt sowohl den Sohn als auch den Betreuer des Verstorbenen über sein Handeln informieren hätte müssen, steht außer Frage. Diese Aufklärungspflicht sieht das Gericht aber zwingend unabhängig von einer finanziellen Entschädigung. Sowohl Schmerzensgeld als auch ein Ersetzen der Aufwandskosten für Behandlungs- und Pflegekosten soll es nicht geben:
„Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen ist es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insbesondere dienen diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten“, so das Urteil.
Und noch eine Frage stellt sich in diesem Zusammenhang: Hätten sich Sohn und Betreuer tatsächlich gegen die Lebenserhaltung des Patienten entschieden, wenn der Arzt sie damals konsultiert hätte? Ein Nachweis hierfür war aus gerichtlicher Sicht nicht ausreichend gegeben, weshalb die Klage vor dem Landgericht München scheiterte.
„Wir sind fassungslos“, erklärte der Anwalt des Klägers Wolfgang Putz. Mit dem Urteil sieht er „25 Jahre BGH-Rechtsprechung über den Haufen geworfen“, sagte er nach der Urteilsverkündung gegenüber LTO. „Wenn die künstliche Ernährung verlängert wird, obwohl sie medizinisch nicht mehr indiziert ist, ist das eindeutig ein Behandlungsfehler“, wird er in der taz zitiert. Dass die Richter gegen Schmerzensgeld-Ansprüche entschieden, sieht die Klägerseite problematisch. Nur wenn Ärzte für Verstöße haftbar gemacht würden, wäre die Einhaltung medizinischer Standards gewährleistet, lautete die Argumentation, wie unter anderem die Tagesschau berichtete. „Eine Lebenserhaltung kostet Geld, ganz neutral“, so Putz. Nun könnten Ärzte „sanktionslos weiterbehandeln“, ohne Angehörigen entstandene Kosten zu ersetzen.
Bundesärztekammer-Präsident Montgomery begrüßt das Urteil der Karlsruher Richter. „Besonders schwierig wird es für Ärzte, wenn der Wille des Patienten nicht bekannt ist und letztlich andere für ihn entscheiden müssen. Könnte verlängertes Leben als Schaden qualifiziert werden, so müsste faktisch losgelöst vom Willen des Patienten darüber entschieden werden, wann ein Leben noch lebenswert ist und wann es einen Schaden darstellt. Das ist keine humane Herangehensweise. Für niemanden – erst Recht nicht für Ärzte“, lautet sein Statement in einer Pressemitteilung der BÄK. Der Deutsche Ethikrat hat sich zum Urteil bisher nicht geäußert.
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