Auf der Intensivstation ist der Tod nach Sepsis immer noch allgegenwärtig. Trotz der Anwendung neuer diagnostischer Parameter konnte die Mortalität seit den 90er Jahren nicht gesenkt werden. Es scheint so, als wäre der Patient nun beim Computer besser aufgehoben als beim Arzt.
Es ist die gefürchtetste Komplikation, die einen Patienten in der Klinik treffen kann. Sie ist die häufigste Ursache für den Tod auf der Intensivstation. Über ein Drittel derjenigen, die an einer schweren Sepsis erkranken, verlassen das Krankenhaus nicht mehr lebend. Und das Besorgniserregendste daran: Die Rate steigt von Jahr zu Jahr. Weltweit um 5 bis 13 Prozent.
In Deutschland liegt die Mortalität mit 42 Prozent noch weit höher im Vergleich mit jener in Großbritannien (32%), den USA (23,5%) oder Australien (18,5%). Über die Gründe befragt, reden Experten von weit verbreiteter Unkenntnis der Symptome und Organisationsmängel bei der Behandlung. Einer Behandlung, bei der es schnell gehen muss, denn mit jeder Minute ohne passende Antibiose sinken die Chancen. In den ersten 30 Minuten sind es noch 82, in der halben Stunde darauf schon nur mehr 77 Prozent Überlebenschance.
Die Zeichen einer Sepsis sind vielfältig. 1991 wurde sie noch entsprechend einem Systemischen Inflammatorischen Response Syndrom (SIRS) zusammen mit einer Infektion definiert. Die Zeichen einer fehlregulierten Immunabwehr erwiesen sich jedoch als unzureichend. Die neuere Version, Sepsis-3, berücksichtigt jetzt, dass wichtige Körperorgane infolge der Antwort auf die Infektion immer mehr ihre Funktion verlieren. Bei diesem Sequential Organ Failure Assessment (SOFA) spielen Atmung (Sauerstoffpartialdruck/Atemrate), Gerinnung (Thrombozyten), Leberfunktion (Bilirubin), Kreislauffunktionen (Blutdruck und Katecholaminbedarf), das zentrale Nervensystem (Koma) und Niere (Kreatinin) eine große Rolle. Eine Verschlechterung um mindestens zwei Punkte bei den Parametern gilt als typisches Sepsis-Syndrom.
Das Problem einer Verwechslung mit anderen häufigen Symptomen eines Traumapatienten, eines Patienten mit Pankreatitis oder eines Herzinfarkt-Patienten soll damit gemindert werden. Denn auch dort können die SIRS-Symptome auftreten.
Das zeigt unter anderem eine Studie an sieben US-Kliniken, bei denen Sepsis-Experten der Klinik und ein diensthabender Arzt unabhängig eine Multiple-Choice-Diagnose bei der Aufnahme in die Intensivstation und bei der Entlassung abgaben: Sepsis, SIRS ohne Infektion oder unbestimmter Befund. Insbesondere bei Atemwegsinfektionen im Frühstadium registrierten die Autoren große Unterschiede zwischen Arzt und Experten der Klinik. Unabhängig von der Diagnose Sepsis oder SIRS wurden bei 60 % aller Patienten Antibiotika verordnet, wohl ein Zeichen der Unsicherheit bei der Einschätzung.
Auch beim verbesserten Kriterienkatalog ist immer noch oft eine zeitaufwändige Diagnostik nötig. Bis zu 72 Stunden kann es dauern, bis insbesondere anhand einer Blutkultur die Sepsis feststeht. Die Suche nach neuen Parametern für einen schnellen und sicheren Befund geht deswegen immer noch weiter.
Vor etwa einem Jahr publizierte eine Arbeitsgruppe aus Boston einen Test, der die chemotaktische Bewegung von neutrophilen Granulozyten analysiert und bei einem minimalen Probevolumen in 4,5 Stunden ein Ergebnis liefert, das zumindest von Spezifität und Sensitivität besser als SOFA sein soll. Michael Bauer vom Center for Sepsis Control an Care in Jena wendet jedoch ein, dass diese Zellen „genauso mit Wanderungsbewegungen auf einen Gewebeuntergang durch ein chirurgisches Trauma oder Durchblutungsstörungen – zum Beispiel nach einem Infarkt – wie auch auf bakterielle Infektionen reagieren“ und deswegen die bestehende Unsicherheit nicht weiter auflösen könnten.
Was die Diagnostik einer Infektion jenseits der Blutkultur angeht, ist auch das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik im Rennen um die schnelle Sepsis-Erkennung. Es arbeitet mit internationalen Partnern an einer chip-basierten Erregerdiagnose, die schnell aus dem Blut heraus erfolgen könnte. Die Erkennung pathogener Keime mittels Next-Generation-Sequenzierung ist inzwischen in der Klinik angekommen und wurde in Heidelberg an knapp 50 Sepsispatienten in einer Sekundäranalyse bei einer prospektiven Studie getestet.
Der erfolgreiche Test bekam dafür vor einigen Wochen den Innovationspreis des Stuttgarter Intensivkongresses. Dabei verglich ein Expertenpanel die Plausibilität der Sequenzierungsergebnisse mit denen einer Blutkultur. Am Beginn der Sepsis erkannte die DNA-Analyse rund 72 Prozent der Proben als positiv, die Blutkultur nur 33 Prozent. 96 Prozent der Ergebnisse mit der neuen Methode erschienen den Fachleuten als plausibel. Über die ganze 28 Tage lange Untersuchungsperiode hinweg erkannte die DNA-Diagnostik mehr als sechs mal so viele Proben im Vergleich zur Blutkultur und hätte in über 50 Prozent der Fälle zu einer besseren antibiotischen Therapie geführt, so die Autoren in der Zeitschrift „Critical Care Medicine“.
Mit einem zuverlässigen Marker für eine fortgeschrittene Sepsis, IL-6, soll die Entwicklung der Infektion und der überbordenden Reaktion darauf besser kontrolliert werden. Eine implantierbare Elektrode dafür hat Damion Corrigan und sein Team an der schottischen Universität Strathclyde entwickelt, aber noch nicht im klinischen Einsatz.
Sehr vielversprechend scheint sich aber vor allem das „Machine-Learning“ bei der Diagnose und bei der Behandlung einer Sepsis entsprechend der verfügbaren klinischen Daten zu entwickeln. Im Zeitalter elektronischer Krankenakten steht dabei ein riesiger Bestand an Daten und Verläufen zur Verfügung, aus denen ein Rechner Algorithmen für die zeitnahe Erkennung und für Behandlungsratschläge entwickeln kann.
Inzwischen sind es zahlreiche Studien, die den Beweis angetreten haben, dass der Computer dem Menschen bei der Einschätzung des Sepsisrisikos für den Patienten überlegen ist. Eine aktuelle Metaanalyse über sieben Studien zeigte bessere Resultate des Rechners drei bis vier Stunden vor Ausbruch im Vergleich zu den bisherigen SOFA- und SIRS-Kriterien.
Über zwei Mio. elektronische Krankenakten aus 49 kommunalen US-Kliniken dienten als Basis für eine Untersuchung, veröffentlicht in den aktuellen „Annals of Emergency Medicine“. Die eine Hälfte davon diente als Trainings-Panel für die Entwicklung von Algorithmen, die andere als Test-Panel zu deren Überprüfung. Auch hier erwiesen sich die Schlussfolgerungen der Maschine jenen des Menschen überlegen, ganz gleich welche der bisherigen Kriterien er für die Einschätzung benutzte.
Nahezu 20 Prozent sensitiver (68 vs 49 Prozent) und 15 Prozent spezifischer als SOFA und mit noch größerem Abstand gegenüber SIRS, gemessen eine Stunde nach den ersten Befunden, sprechen auch diese Daten für die computerbasierte Diagnostik. Der aussagekräftigste Parameter scheint dementsprechend der Laktatwert zu sein. Auch in Neugeborenen-Intensivstationen, so zeigt eine weitere aktuelle Untersuchung aus Philadelphia, sind Computer überlegen und auf dem Weg in die klinische Praxis bei der Erkennung gefährlicher Infektionen.
Aber nicht nur bei der Diagnose, sondern auch bei Behandlungsentscheidungen scheint der digitale Assistent inzwischen zu gewinnen, etwa bei der Dosierung von Infusionen oder von Vasopressoren. Eine englisch-amerikanische Gruppe veröffentlichte Mitte letzten Jahres in „Nature Medicine“ eine Studie mit dem „Artificial Intelligence Clinician“, einem Algorithmus, der seine Behandlungsratschläge auf der Analyse von 48 Variablen bei rund 96.000 Patienten auf Intensivstationen herleitete.
Das Studienziel war die niedrigstmögliche Mortalität. Bei der Test-Kohorte – unabhängig von den Daten der Trainings/Lerngruppe der Patienten – war die Sterblichkeit immer dann am niedrigsten, wenn die Entscheidung des Arztes mit der des Rechenprogramms übereinstimmte. Im Vergleich zu seinen menschlichen Kollegen schlug der Computer eine eher niedrigere Dosierung der Infusionen, jedoch eine höhere Menge an Vasopressoren vor.
Aber weder in den USA noch in Deutschland ist die maschinelle Sepsiserkennung oder gar -behandlung bisher zur klinischen Routine geworden. Bis es soweit ist, dürften noch einige Jahre vergehen. Jahre, in denen die Sepsis-Mortalität mit anderen Mitteln verringert werden sollte. Das Uniklinikum Greifswald ist in Deutschland einer der Vorreiter auf diesem Gebiet. Dort ist durch den dort initiierten „Sepsis-Dialogs“ die Mortalität um rund ein Drittel gefallen und gehört zu den niedrigsten aller deutschen Kliniken.
Auch in Greifswald wird an Computerprogrammen für Erkennung und Behandlung gearbeitet. Dazu kommen regelmäßige Fortbildungen und Schulungen. Eine Karte für die Kitteltasche informiert Ärzte und Pfleger über die typischen Symptome und die angemessene Reaktion darauf.
Auszug aus der Info-Karte. Hier gibt es den vollständigen Inhalt.
Schließlich kümmert sich eine „Sepsis-Schwester“ in Vollzeit um die Dokumentation von Sepsis-(Verdachts-)Fällen, die Blutkulturen und die schnelle Reaktion auf eine Infektion. Bemühungen, die der Klinik 2017 den „World-Sepsis Award“ einbrachten.
Ein kritischer Review-Artikel in der Fachzeitschrift „Lab on a Chip“ befasste sich vor einigen Wochen mit Point-of-Care-Systemen der Sepsiserkennung und -behandlung, also Technik in der Nähe des Krankenbetts. Die Autoren beschrieben bei etlichen Geräten dabei die Vorteile, aber auch die mangelnde Spezifität und die Notwendigkeit, bei einer so inhomogenen Krankheit wie der Sepsis verschiedenste Parameter zu berücksichtigen. Eine Aufgabe, die sehr hohe Ansprüche an Personal und Technik stellt. An beiden Säulen muss noch gebaut werden, um sie zu starken Pfeilern beim Kampf gegen die tödliche Gefahr in der Klinik zu entwickeln.