Ärzte müssen Entscheidungen treffen. In Notfallsituationen bleibt dafür aber oft nicht viel Zeit. Obwohl wenig über den Patienten bekannt ist, muss sofort ein Behandlungsschritt festgelegt werden. Wie sehr sollten sich Mediziner dabei auf ihr Bauchgefühl verlassen?
In der Medizin ist die Fähigkeit, Entscheidungen treffen zu können enorm wichtig. Dabei spielen Fachwissen und Kompetenz des Arztes eine zentrale Rolle. Doch auch individuelle Wahrnehmung und Vorerfahrung wirken unbewusst auf Entscheidungen ein.
Eine intuitive Entscheidung aus dem Bauch heraus erweckt den Eindruck, sie sei zwar schneller, aber vereinfacht und emotional und somit anfälliger für Fehler. Entscheidungen im täglichen Leben sind nun aber selten ausschließlich rational. Neben bewussten, rationalen Faktoren haben auch unbewusste Vorgänge wie das Bauchgefühl Einfluss darauf, wie wir entscheiden. Und das ist gut so: Gerade in komplexen Situationen kann es zu der besseren Entscheidung führen, wenn sich Verstand und Intuition ergänzen. Wie sollte man als Arzt mit dem Bauchgefühl umgehen?
Eine vollkommen vernunftorientierte Entscheidung ist im Alltag auch kaum möglich, da nie alle Faktoren bekannt sind. In der Medizin versucht man zwar, das Risiko für Fehler durch moderne Diagnostik zu minimieren. In Ausnahmesituationen ist diese Möglichkeit jedoch eingeschränkt.
Philipp Gotthardt kennt dieses Problem gut. Seit fünf Jahren ist er als Notfallmediziner in Nürnberg tätig. „In der Notfallmedizin besteht oft ein Missverhältnis zwischen Information und Handlungsbedarf. Ich muss handeln, weiß oft aber noch nicht klar, auf welcher Faktenbasis ich das tue“, erklärt er.
Chaos und Hektik am Unfallort sind besonders schwierige Voraussetzungen, um überlegt zu handeln. Denn wenn die Nerven unter akutem Stress flattern, ist die Entscheidungsfähigkeit gehemmt. Einer Arbeit von Hartley und Phelps und weiteren Studien zufolge könnte dies daran liegen, dass die für Angst und Entscheidungen zuständigen Netzwerke im Gehirn überlappen.
Um trotz Zeitdruck, chaotischem Umfeld und geringer Faktenbasis entscheidungsfähig zu sein, gibt es in der Notfallmedizin Handlungsleitfäden wie das ABCDE-Schema. Dabei wird eine Prioritätenliste systematisch abgearbeitet, um schnellstmöglich lebensbedrohliche Zustände feststellen und abwenden zu können. Philipp Gotthardt beschleicht in seinen Einsätzen aber zuweilen auch ein Bauchgefühl. Woher kommt das Bauchgefühl, wann kann es in der Notfallmedizin genutzt werden und wann führt es in die Irre? Dieser und vielen anderen Fragen geht Gotthardt auf seinem Blog Nerdfallmedizin auf den Grund. Zusammen mit dem befreundeten Kollegen Martin Fandler teilt der Arzt dort in Videos und Texten sein Wissen und gibt praktische Tipps. Hier geht es zum Nerdfall-Video über das Bauchgefühl.
Warum ein Bauchgefühl in einer bestimmten Situation plötzlich auftaucht, wissen wir meist nicht. Hieraus zu schließen, dass es keine plausiblen Gründe für das Gefühl gibt, greift allerding zu kurz. Forscher vermuten vielmehr, dass die Intuition auf unbewussten Prozessen der Informationsverarbeitung basiert. Demnach greift das Bauchgefühl auf eine unbewusste Wissensbasis zurück, die sich aus individuellen Erfahrungen speist. Das Bauchgefühl ist also eine Art Erfahrungsgedächtnis.
„Mit den Jahren bekommt man ein Gefühl dafür, wie ein kranker Patient aussieht und lernt eine Situation besser einzuschätzen“, erläutert Philipp Gotthardt. Psychologische Studien bestätigen dies: Eine intuitive Entscheidung kann vor allem dann erfolgreich sein, wenn sie auf ausreichend Erfahrung beruht. Mit Expertise wächst den Forschern nach auch die unbewusste Wissensbasis und die Intuition wird verlässlicher.
Das Bauchgefühl hat seine Basis buchstäblich im Bauch. Grundlage ist das enterische Nervensystem, das aus ungefähr 200 bis 600 Millionen Nervenzellen besteht, ungefähr so viele wie im gesamten Rückenmark (Mayer E.A. 2011). Das enterische Nervensystem bildet eine wesentliche Grundlage für die Repräsentation von körperlich-emotionalen Zuständen, wie, wenn man beispielsweise sagt, man habe Schmetterlinge im Bauch.
Antonio Damasio hat zunächst festgestellt, dass Patienten mit Läsionen des medialen präfrontalen Cortex (z.B. aufgrund eines Schlaganfalls) nicht mehr in der Lage waren, Emotionen bei der Entscheidungsfindung zu verwenden. Das hatte teilweise verheerende soziale Konsequenzen, wie den Verlust der Familie oder den finanziellen Ruin. Basierend auf diesen Beobachtungen und weiteren Studien hat er die sogenannte „Somatic-Marker Hypothese“ entwickelt (z.B. Bechara und Damasio 2005), die im Kern postuliert, dass bei einer Entscheidung körperliche Zustände, die durch die Antizipation verschiedener Entscheidungsoptionen, hervorgerufen werden, ganz wesentlich die letztlich gewählte Option beeinflussen.
Das kann bewusst passieren, indem man ein bestimmtes Bauchgefühl intensiv verspürt oder auch nicht bewußt, indem die jeweiligen körperlichen Zustände über subcortikale Strukturen die Entscheidung beeinflussen, ohne dass das handelnde Subjekt diesen Einfluss verspürt.
Folgendes Beispiel soll zur Veranschaulichung dienen: Ein 70-jähriger Patient klagt über plötzliche starke Schmerzen im Rücken und Kraftverlust in den Beinen. Der Arzt hat bereits einen Verdacht auf einen Bandscheiben-Prolaps im Bereich der Lendenwirbelsäule. Zusätzlich hat der Patient aber auch einen niedrigen Blutdruck und gürtelförmige Schmerzen.
Diese Symptomenkombination generiert beim Notarzt das Gefühl, dass hier etwas unstimmig ist. Die Kombination von gürtelförmigen Schmerzen mit einem Blutdruckabfall paßt eben nicht zu einer typischen Präsentation eines Bandscheibenvorfalls im Bereich der LWS. Wahrscheinlich schwenkt der Arzt jetzt auf ein differentialdiagnostisches, analytisches Vorgehen um (Gäbler 2017). Dabei erinnert er sich dann möglicherweise erfahrungsgetriggert an einen früheren Fall mit ähnlich gearteten diffusen Schmerzen sowie einem Blutdruckabfall. Damals lag ein Bauchaortenaneurysma vor.
Der Notarzt Daniel Marx beschreibt dies als ein klassisches Szenario, in dem das Bauchgefühl als wichtiges Warnsignal fungiert. Wenn sich bei einem Einsatz ein ungutes Gefühl einstellt, empfiehlt Marx dieses Empfinden erst einmal zuzulassen. Anschließend kann man der Intuition mit dem Verstand auf den Zahn fühlen. Kommt der Arzt auch nach einer Reevaluation zu dem Schluss, dass der Verdacht auf ein Bauchaortenaneurysma gegeben ist, kann er entsprechende Schritte einleiten.
Blind auf den Bauch zu vertrauen, ist hingegen gefährlich. Denn es besteht die Gefahr, dass sich nicht nur Wissen und Erfahrung, sondern auch Verzerrungen des Denkens oder Voreingenommenheit in die Intuition mischen. Selbstreflektion und die Meinung des Teams sind hierbei wichtig, um einem vorschnellen Urteilen und Handeln auf die Schliche zu kommen.
Blind auf den Bauch zu vertrauen, ist hingegen gefährlich. Denn es besteht die Gefahr, dass sich nicht nur Wissen und Erfahrung, sondern auch Verzerrungen des Denkens oder Voreingenommenheit in die Intuition mischen (Gäbler 2017). Selbstreflektion und die Meinung des Teams sind hierbei wichtig, um einem vorschnellen Urteilen und Handeln auf die Schliche zu kommen.
Daniel Marx hält das Bauchgefühl somit für einen wichtigen Warnhinweis, den man unter bestimmten Umständen nutzen kann. Um dies tun zu können, braucht ein Arzt seiner Einschätzung nach vor allem genügend Erfahrung. Doch auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle. Nur wenn jemand in gewisser Weise für das Bauchgefühl empfänglich ist und die Situation es zulässt, kann dieses zu ihm durchdringen. Damit das besser gelingt, hat Marx das Format Faktor Mensch gegründet. Darin bietet er Seminare zu menschlichem Leistungsvermögen in kritischen Situationen für Mediziner an. Es geht dabei unter anderem um Entscheidungsprozesse, Wahrnehmung oder Notfallkommunikation. Hier kommt im Bereich Entscheidungsprozesse auch das Bauchgefühl zur Sprache. Viel Zeit ist leider nicht dafür, da Marx eine Menge Aufklärungsarbeit leisten muss. Dennoch möchte der Arzt, dass die Teilnehmer ein Bewusstsein dafür bekommen, dass niemand ausschließlich rational handelt.
Marx stellt außerdem fest, dass in der ärztlichen Ausbildung einige Aspekte zu kurz kommen, welche die Leistung abseits vom Fachwissen stark beeinflussen. „Die Teilnehmer denken, dass ihre Leistung mit den Anforderungen der Situation zunimmt.“ Oft ist das Gegenteil der Fall.
Ein Beispiel hierfür ist die Wahrnehmung. Im Medizinstudium lernen angehende Ärzte alles über die Physiologie des Sehens. Sie lernen aber nichts darüber, wie das Wahrnehmen funktioniert. Das ist problematisch, denn nur ein Bruchteil von dem was wir sehen, dringt ins Bewusstsein vor, erklärt Marx. Die Gefahr etwas zu übersehen, ist daher groß. Gerade als Arzt ist es wichtig, sich diese kognitiven Defizite bewusst zu machen, um die eigene Wahrnehmung vor dem Entscheiden kritisch zu hinterfragen.
Artikel von Hanna Stern
Bildquelle: THRSTN92, pixabay