Mit sehr geringen Dosen an Schmerzmitteln übersteht eine Schottin Zahnbehandlungen, Geburten und eine Hüft-OP. Verbrennungen ihrer Haut bemerkt sie erst, als sie das verkohlte Fleisch riecht, auf Schnittwunden macht sie ihre Familie aufmerksam. Wie kann das sein?
Schon seit knapp vier Jahren kann sich die 65-jährige Schottin nicht mehr so gut bewegen. Oft sucht sie Hilfe bei ihrem Hausarzt. Doch die Patientin ist schmerzfrei, ihre Beschwerden werden nicht als ernst eingestuft. Erst, als sie gar nicht mehr gehen kann, schaut der betreuende Arzt genauer hin – und staunt, als er beim Röntgen eine schwere Gelenkdegeneration feststellt. Die Arthrose ist so weit fortgeschritten, dass sich die Frau einer Hüft-OP unterziehen muss.
Schmerzmittel? Nein, danke
Der Eingriff verläuft gut, der Einsatz der neuen Hüfte gelingt problemlos. Doch danach verblüfft die Patientin ihre Ärzte erneut: Sie benötigt kein Schmerzmittel. Sie erholt sich sehr schnell und wird entlassen. Nur knapp ein Jahr später muss sie sich erneut einer Operation unterziehen, diesmal an der Hand. Viele Betroffene empfinden solche Eingriffe als sehr schmerzhaft, aber auch jetzt braucht die Schottin nach der OP keine Schmerzmittel. Ihr Anästhesist, Dr. Devjit Srivastava, wird hellhörig und verweist sie an die Schmerzexperten des University College London und der Universität Oxford.
Forschung in Schottland, England und Kanada
Bei Genanalysen vor Ort finden die Biologen zwei auffällige Mutationen im Zusammenhang mit der Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH). Bei der einen handelt es sich um eine Mikrodeletion eines Pseudogens, die so noch nie beschrieben wurde. Die Mediziner geben ihr den Namen FAAH-OUT. Die andere Mutation finden die Forscher in einem benachbarten Gen, was das FAAH-Enzym kontrolliert. Die Frau reist für weitere Test nach Kanada und wird dort an der University of Calgary untersucht.
Hier bestätigt sich die Vermutung der Forscher. Bluttests zeigen, dass die Patientin einen erhöhten Spiegel an Neurotransmittern im Blut aufweist, die normalerweise von FAAH reduziert werden. Offenbar ist die Funktion des FAAH bei ihr eingeschränkt. Diese Funktion kennen Schmerzexperten gut: Sie ist am endogenen Cannabinoid-System beteiligt und wichtig für Schmerzempfinden, Stimmung und Erinnerungsvermögen. Ratten und Mäusen fehlt das Enzym, was mit reduziertem Schmerzempfinden, beschleunigter Wundheilung und verringerter Angst einhergeht.
Vermeintliches Abfall-Gen mit großer Wirkung
Das zuvor bereits erkannte, aber nie benannte FAAH-OUT wurde bisher als eine Art Abfall-Gen wahrgenommen, das keine Funktion hat. Doch in der Schottin wirkt es offenbar ähnlich, wie bei den kleinen Nagern. Bei der medizinischen Befragung erinnert sie sich, nie Schmerzmittel gebraucht und Schnittwunden oft gar nicht bemerkt zu haben. Verbrennungen seien der Veganerin oft erst aufgefallen, wenn es nach verbranntem Fleisch roch. Und bei einem schweren Autounfall, den sie unverletzt überlebte, sei sie ganz ruhig gewesen, während der andere Fahrer am ganzen Leib gezittert habe.
Auch nach Zahnbehandlungen oder unter der Geburt hat die Frau nie Schmerzmittel benötigt. Rückblickend beschreibt sie den Geburtsvorgang als angenehm und schmerzfrei. Ihre Tochter hat keine der überaus seltenen Mutationen geerbt. Ihr Sohn hat aber auch ein vermindertes Schmerzempfinden. Die Experten hoffen, dass sich durch die Publikation ihrer Ergebnisse noch mehr Menschen melden, die von ähnlichen Mutationen betroffen sind und es bisher einfach nur für Glück gehalten haben, wie die inzwischen 71-jährige Schottin. Die weitere Forschung zu Schmerzmitteln und angstlösenden Medikamenten, aber auch die Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) könnte davon erheblich profitieren, so die Biologen.
Quellen: British Journal of Anaesthesia, Science Daily
Bildquelle: Molly Belle, Unsplash