Ich werde für eine Liquorpunktion auf die Überwachungsstation bestellt. Vor mir sitzt ein großer breitschultriger Mann, der sich alle Mühe gibt, seine Nervosität zu verstecken. Daneben sitzt seine deutlich entspanntere Frau. Und dann geschieht etwas Unerwartetes.
Ich stelle mich vor und kündige an, die Untersuchung durchzuführen. Meine erste Frage gilt dabei immer den Angehörigen: „Möchten Sie dabei bleiben oder lieber in die Cafeteria, bis es vorbei ist?“
Der Patient lacht. „Sie muss dabei sein“, grinst er, „sie hatte drei Mal eine Spinale zum Kaiserschnitt, und heute darf ich ihr das alles zurückgeben.“ Scheint mir jetzt nicht besonders fair, drei Kaiserschnitte gegen eine LP aufzuwiegen. Und eigentlich mag ich das nicht, wenn mir Angehörige dabei über die Schulter schauen. Pech gehabt.
Die nächste Frage: „Wollen Sie sitzen oder lieber liegen?“
„Sitzen geht schon“, brummt er. Ich sehe die Wahrscheinlichkeit, dass er mir zusammenklappt, etwa bei 40 bis 60 Prozent, aber im Sitzen geht die Entnahme viel schneller, also lasse ich es einfach drauf ankommen.
Eigentlich sollte ich nun an dieser Stelle Hilfe erhalten: Mindestens eine Pflegekraft, je nach Supervisionswunsch sogar ein Oberarzt, sollten mir zur Seite stehen. Jemand muss mir, wenn ich steril angezogen bin, Dinge reichen. Supervision brauche ich eigentlich keine – das ist meine gefühlt tausendste LP dieses Jahr – aber je nach Oberarzt steht gerne mal jemand daneben und schaut mir zu.
Heute hat niemand Zeit. Im OP sind alle ausgelastet, und die einzige Pflegekraft auf der Überwachung hat einen Patienten, um den sie sich kümmern muss. Sie kommt kurz vorbei, um mir bei den Vorbereitungen zu helfen, springt dann aber wieder davon.
Eine neugierige Begleitung
Ich setze die örtliche Betäubung. Die Ehefrau des Patienten sitzt vor ihrem Mann, leicht amüsiert, und steht immer wieder auf, um hinter den Rücken zu spienzeln, um zu sehen, was ich da mache. „Wissen Sie, ich hab ja nie zuschauen können, als man das bei mir gemacht hat, und ich bin halt neugierig“, sagt sie. Damit kann ich leben.
Immer wieder frage ich den Patienten, ob noch alles gut sei, während ich mit der langen, stumpfen Nadel den Zugang zum Hirnwasser suche. Nach ein paar Sekunden schon gibt er keine Antwort mehr und die Ehefrau meint „Hui, jetzt ist er ganz bleich!“
Super, und ich stehe alleine da mit einem kollabierenden Patienten.
Mit einer kurzen Handbewegung ziehe ich die Nadel aus dem Rücken, lege sie auf den sterilen Tisch und fasse mit beiden Händen an die Schultern des Patienten. Gleichzeitig rufe ich die Pflege, die zum Glück nicht weit ist. Zusammen legen wir den Patienten hin. Sein Blutdruck ist abgesackt – eine Reaktion auf den Stich, die wir „vasovagale Synkope“ nennen. Ungefährlich, aber in dieser Situation mühsam, weil ich nachher von vorn anfangen muss. Aber daran bin ich ja selbst schuld, ich hätte den Patienten auch von Anfang an hinlegen können.
Die Ehefrau nimmt's gelassen und kichert leise in ihren Mundschutz. Die Pflege muss wieder zu ihrem Patienten. Eigentlich hätte ich sie jetzt hier gebraucht, um meinen Patienten besser zu überwachen. Von hinten kann ich einfach nicht sehen, was gerade los ist, ob der Patient ansprechbar ist, wie seine Gesichtsfarbe aussieht … Das ist einfach eine blöde Situation, um alleine zu sein.
Ich beginne wieder von vorn: Ertasten der richtigen Stelle, da sich alles etwas verschiebt beim Lagewechsel, Desinfektion, Vorbereitung des Materials. Der Patient ist jetzt schön friedlich in Seitenlage und macht keinen Mucks.
Die Ehefrau übernimmt nun die Aufgabe der Pflege und stupst ihn von Zeit zu Zeit an, um ihn zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Er murmelt leise vor sich hin: „Hu, da war ich doch glatt kurz weg.“ No shit, Sherlock.
Wenigstens der Zugang geht mir leicht von der Hand. Auf Anhieb füllt sich die kleine, durchsichtige Kammer der Nadel mit dem ebenfalls durchsichtigen Hirnwasser. Nun beginnt der mühsame Teil, nämlich das Füllen der Röhrchen.
Die Nadeln für diese Untersuchung sind sehr klein. Der Grund dafür ist, dass wir ja eigentlich ein Loch in den Spinalkanal mit dem Hirnwasser drin machen, und je größer das Loch ist, desto eher schließt es sich nicht richtig, und das Wasser rinnt ins umliegende Gewebe. Eine unangenehme, wenn auch sehr seltene Komplikation.
Durch die dünne Nadel tropft das Wasser aber nur sehr langsam. Im Sitzen geht das etwas schneller, weil da die Schwerkraft noch mitspielt, aber im Liegen bin ich froh, wenn alle paar Sekunden ein Tropfen kommt. Ich brauche mindestens 25 Tropfen in jedem der vier Röhrchen.
Die Ehefrau ist nach wie vor begeistert. Sie schaut mir interessiert zu, wie ich mit einer Hand konstant die Nadel festhalte und mit der anderen mühselig ein Röhrchen aufschraube. Die Teströhrchen sind nicht steril, das heißt, ich muss strikt aufpassen, was ich mit welcher Hand anfasse. Und ja nie die Nadel loslassen.
Als ich 25 Tropfen habe, stelle ich das Röhrchen unverschlossen in einen Becher, und frage mich gerade, wie ich es nun möglichst effizient schaffe, das Röhrchen zu verschliessen und das nächste zu fassen, alles nur mit einer Hand, und möglichst, ohne einen Tropfen Hirnwasser zu verschwenden – da nimmt die Ehefrau wie selbstverständlich das nächste Röhrchen, schraubt den Deckel ab, reicht es mir und schraubt danach das volle Röhrchen zu.
Wir wiederholen dieses Spiel noch für das dritte und vierte Röhrchen. Umsichtig schraubt sie die vollen Röhrchen zu und reicht mir die leeren, ohne dabei jemals irgendetwas anzufassen, das sie nicht sollte. Zwischendurch stupst sie ihren Göttergatten an und redet ein paar Worte mit ihm. Das reicht mir auch, um zu wissen, dass soweit noch alles okay ist. Er wirkt müde, aber entspannt, und wartet geduldig auf das Ende der Untersuchung.
Das vierte Röhrchen ist gefüllt. Ich ziehe die Nadel heraus und klebe ein Pflaster. Gemeinsam helfen wir dem Patienten, damit er sich wieder auf den Rücken drehen kann. Danach bedanke ich mich bei der Ehefrau, die mir die ganze Zeit assistiert und dabei vollständig den Job der Pflegefachperson übernommen hat, die ich in so einer Situation eigentlich gerne an meiner Seite gehabt hätte.
Es ist nicht selbstverständlich, dass das einfach so funktioniert. Im Gegenteil. Die meisten Angehörigen wollen bei der Untersuchung nicht dabei sein. Oder sie ertragen den Anblick von Nadel und Blut schlecht. Nicht diese Frau. Ohne jegliche medizinische Vorkenntnisse, aber mit viel Interesse, hat sie mir das Leben erheblich leichter gemacht.
Einerseits ist das ein schönes, denkwürdiges Erlebnis für mich.
Andererseits bin ich sauer, dass so was überhaupt nötig ist. Eigentlich hätte ich lieber das nötige Personal zur Verfügung, um eine so wichtige und mühselige Untersuchung sicher und effizient durchzuführen. Die Tatsache, dass mir eine Angehörige assistieren muss, weil sonst schlicht niemand da ist, ist ein Armutszeugnis für unser Krankenhaus und unser System.