Die Medizin wird weiblicher und doch bleiben Frauen in Spitzenpositionen eine Seltenheit. Viele Ärztinnen gehen nicht strategisch vor und stellen den Kinderwunsch über die Karriere, kritisiert eine Professorin für Anatomie. Woran liegt das?
Derzeit ist in Deutschland nur etwa jede zehnte Spitzenposition in der Universitätsmedizin durch eine Frau besetzt. Das soll sich ändern: Medizinerinnen in der Forschung bekommen mehr Aufmerksamkeit. Das Fachmagazin The Lancet widmete ihnen kürzlich sogar eine ganze Ausgabe. Auch der European Congress of Radiology (ECR) rückt Forscherinnen dieses Jahr in den Fokus. Übergeordnetes Ziel ist unter anderem, die medizinische Forschung weiblicher zu machen. Endlich den Bann zu brechen, der Ärztinnen immer noch davon abhält, die wissenschaftliche Karriereleiter bis ganz nach oben zu klettern.
Dabei ist die Basis der Ärzteschaft heutzutage weiblicher denn je. Im Jahr 2014 lag in Deutschland der Studentinnenanteil im Medizinstudium laut statistischem Bundesamt bei 61 Prozent. Zahlenmäßig dominieren die Frauen das Studium auch bis zum Ende, doch schrumpft der Anteil ab der Promotion dramatisch: Nur rund ein Viertel aller Habilitationen wird von Forscherinnen verfasst. Gerade einmal vierzehn Prozent der Professuren an allen 34 deutschen Medizinuniversitäten sind von einer Frau besetzt. Auch Oberärztinnen sind in der Universitätsmedizin eher eine Seltenheit. Deutschlandweit sind es gerade einmal 31 Prozent.
Das Geschlechterverhältnis variiert hier allerdings deutlich innerhalb der Fachdisziplinen. In den Bereichen Frauenheilkunde und Dermatologie, die traditionell mehr Frauen anziehen, sind immerhin die Hälfte aller Oberarztstellen durch Ärztinnen belegt. Deutlich einsamer wird es für Frauen in der Chirurgie und Urologie – beide werden als typisch männliche Fächer betrachtet. Hier sind nur rund fünfzehn Prozent der Oberärzte weiblich.
Mit falscher Bescheidenheit, ohne Strategie
Wieso der Anteil an Ärztinnen auf der Karriereleiter derart radikal schrumpft, darüber wurde bereits viel gerätselt. Längst sind es nicht nur die Männer, die ihr Territorium gegen die gefürchtete Feminisierung verteidigen wollen und sich gegenseitig bei einer Flasche Rotwein die Chancen zuschachern. Posten- und Stipendienvergaben erfolgen heutzutage in der Regel gleichberechtigt. Das betont auch Prof. Heike Kielstein, Direktorin des Instituts für Anatomie und Zellbiologie am Universitätsklinikum Halle (Saale): „Es gibt keine Bevorzugung. Aber es gibt deutlich mehr männliche Bewerber.“
Dass Frauen weniger aktiv Fördermöglichkeiten und Karrierekatapulte nutzen, zeige sich bereits während des Studiums. Kielstein beobachte häufig, dass sich Studentinnen trotz hervorragender Leistungen und ehrenamtlichen Engagements seltener als ihre männlichen Kommilitonen für ein Stipendium bewerben. Diese stellen sich oft auch mit schlechteren Qualifikationen selbstbewusst um begehrte Fördermaßnahmen an. In Gesprächen mit den Studentinnen bemerkt die W3-Professorin immer wieder, dass die jungen Frauen viel zu bescheiden agieren und sich generell weniger zutrauen würden als ihre männlichen Kollegen.
Nach dem Studium würden sich diese Verhaltensunterschiede noch stärker bemerkbar machen: „Die Männer sind sehr strategisch. Sie überlegen genau, mit wieviel Arbeit, wievielen Diensten sie die besten Möglichkeiten haben.“ Solch einen Karriereplan haben laut einer Studie 73 Prozent aller männlichen Ärzte in der Kitteltasche, während sich bei den Ärztinnen nur rund die Hälfte konkrete Gedanken gemacht haben. Frauen sind beim Arztberuf zudem tendenziell mehr an der Patientenversorgung interessiert und weniger am Karrieremachen. Unklar scheint allerdings, ob es sich bei dieser Entscheidung tatsächlich um ein ursprüngliches Bedürfnis handelt. Eventuell wird diese bewusste Abwendung von Karriere und Forschung auch durch ein geringeres Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten hervorgerufen.
Wo die Forscherinnen auf der Strecke bleiben
Analysen zeigen, dass die Gründe für den Frauenschwund in diesem Bereich vielfältig sind. Hier kommen vor allem strukturelle und gesellschaftliche Faktoren mit weiblichen Motivations- und Lebenszielen zusammen. Für eine Karriere in der Universitätsmedizin müssen private Kompromisse hingenommen werden, bedingt durch lange Arbeitszeiten, hohe Arbeitsaufwände und Ortswechsel. Viele Frauen schrecken genau davor zurück, weil sie ihre Familienplanung gefährdet sehen. Für Kielstein ist das immer wieder eine frustrierende Erkenntnis. In ihrem Institut arbeiten derzeit fast ausschließlich weibliche Forscherinnen, doch keine strebt aufgrund der hohen Arbeitsbelastung eine Habilitation an. „Wir können keinen Hund zum Jagen tragen,“ sagt Kielstein mit resignierter Stimme.
Einer der Hauptgründe für diese Einstellung vieler Frauen ist, dass sie sich immer noch größtenteils hauptverantwortlich für die Kinderbetreuung fühlen. Sie sind daher eher bereit, ihre eigene Karriere für das private Familienglück zu opfern. Dies ist besonders deutlich zu sehen, wenn der Partner ebenfalls Mediziner ist: Fast 52 Prozent der Ärztinnen halten ihre eigene Karriere im Vergleich zur Karriere des Partners für weniger wichtig. Der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch das kann bei den üblicherweise langen Arbeitszeiten nur ein Teil der Lösung sein und packt das Problem nicht bei der Wurzel.
Zur Diskussion muss generell die maskulin geprägte Arbeitskultur stehen. Sie treibt Frauen mit Kinderwunsch spätestens ab der Schwangerschaft, Kinderbetreuung und damit einhergehender Teilzeitarbeit oftmals in eine Sackgasse. Aber lange Arbeitszeiten und rigide Arbeitszeitmodelle sind auch generell nicht auf die Bedürfnisse von aktiv an der Erziehung beteiligten Eltern ausgerichtet. Dabei ist es ganz egal, ob diese Aufgabe von einem Mann oder einer Frau ausgeführt wird. Diese Strukturen sollten daher grundsätzlich überdacht werden. So könnten flexible Dienstzeitmodelle, Möglichkeiten zur Führung in Teilzeit sowie die Entkopplung von Leistung und Vollzeittätigkeit dazu beitragen, dass Beruf und Familie besser vereinbar sind.
Mit Plan und Vorbildern an die Spitze
Doch selbst wenn die Arbeitskultur familienfreundlicher wird, so darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass ein Karriereweg in der Forschung immer etwas mit Leidenschaft auf der einen Seite und Entbehrungen auf der anderen Seite zu tun haben wird. Damit sich Ärztinnen dennoch trauen, ihrer eigenen Karriere einen größeren Stellenwert zu geben, braucht es noch mehr als rein strukturelle Veränderungen. Auch in der Eigenwahrnehmung der Frauen muss sich etwas ändern. Immer noch ist ärztliche Führung geschlechtlich konnotiert und vorwiegend männlich.
Es mangelt bereits während des Studiums an geeigneten weiblichen Vorbildern. Das gilt besonders für die traditionell männlich geprägten Fachdisziplinen, wie Chirurgie. Dabei können erfolgreiche Forscherinnen dem Nachwuchs bei der Karriereplanung helfen. Mit ihrer eigenen Karrieregeschichte eröffnen sie Perspektiven und zeigen, was alles möglich ist. Um Studentinnen und Absolventinnen auf ihrem Karriereweg zu unterstützen, hat der deutsche Ärztinnenbund das „MentorinnenNetzwerk“ ins Leben gerufen.
Auch Kielstein ist Teil dieses Netzwerks. Sie hält es für wichtig, sich und ihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Auch sie hätte sich im Studium und zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn eine weibliche Unterstützung gewünscht. In den von ihr bevorzugten Fächern Chirurgie und Anatomie gab es allerdings kaum Professorinnen, an die sie sich hätte wenden können. Doch Kielstein gab nicht auf. Sie suchte auf Kongressen bewusst den Kontakt zu Expertinnen, die als Vorbilder dienen könnten. Und das nicht nur, um fachliche Inhalte zu besprechen. „Es ging um strukturelle Fragen – würdest du raten, jetzt zu habilitieren oder lieber später. Wann ist der beste Zeitpunkt, um Kinder zu bekommen?“
Eine Karriere sollte schließlich gut geplant sein, nicht nur wenn es um Kinder und Familie geht. Schon während des Studiums sollten angehende Ärztinnen für sich klären, was das persönliche Karriereziel ist. Das erklärt Christine Hidas, Oberärztin in einer Klinik für Nieren-, Hochdruck- und Rheumaerkrankung in Darmstadt, in einem Interview mit Ärztin: „Ist es die eigene Praxis? Chefärztin? Professorin an der Uni in der Forschung? Vollzeitige Tätigkeit mit vielen Kindern? Daran erst kann sich eine Planung orientieren.“ Essentiell für das Vorankommen sei zudem ein gutes Kollegen-Netzwerk, das einem in entscheidenden Karrieremomenten weiterhelfen kann. Für Kielstein sind insbesondere die wenigen Kontakte zu anderen weiblichen Forscherinnen wichtig. Sie pflegt diese deshalb innig, sagt sie. „Auch wenn man sich mal nicht so mag,“ fügt sie mit einem Schmunzeln hinzu.
Es geht um mehr als die persönliche Entfaltung
Das Erklimmen der Karriereleiter kann nicht nur für die persönliche Entfaltung wichtig sein. Auch für die Entwicklung der Gesellschaft und der medizinischen Forschung ist es bedeutsam, dass Frauen vermehrt in Führungsebenen aufrücken. Da die klinische universitäre Medizin derzeit überwiegend durch Männer geprägt ist, fehlt bei Forschungsthemen und universitären Entscheidungen oftmals die Perspektive der Frau. So werden hier rund die Hälfte der Bevölkerung und mehr als die Hälfte der Studierenden nicht berücksichtigt.
Als Mitglied des Hochschulsenats sieht auch Kielstein, wie wichtig es ist, dass Frauen in solchen Runden vertreten sind. In dem demokratisch gewählten zwölfköpfigen Gremium gibt es derzeit nur zwei Frauen, weil sich zu wenige für dieses Amt melden würden. Dabei würden Kielstein und ihre Kollegin in den Sitzungen häufig andere Argumente und Blickwinkel vertreten als die männlichen Kollegen. Auch in der Gestaltung des Unterrichts sieht Kielstein deutliche Unterschiede. „Als Frau agiere ich emotionaler, was sehr positiv ist. Vor allem der Umgang mit Studierenden ist anders. Ich schaue mehr auf den Menschen.“ So setzt Kielstein Lehrveranstaltungen bewusst auf Uhrzeiten, an denen auch Mütter und Väter kommen können und Prüfungstermine hält sie niemals während der Schulferien ab. „Ich kann was ändern, zumindest in meinem Institut,“ so Kielstein. Der Erfolg gibt ihr recht: Sie hat bereits mehrfach Lehrpreise erhalten. Zuletzt war es der Titel „Professorin des Jahres 2017“, verliehen durch die UNICUM Stiftung.
Artikel von Iris Fegerl
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