Gesetzliche Krankenversicherungen machen sich mit ihrer Ausschreibungspraxis mehr Feinde als Freunde. Lieferengpässe erzürnen Apotheker, und Verbände kritisieren „Open House“-Ausschreibungen. Haben sie wirklich das Wohl ihrer Versicherten im Fokus?
Was erwarten Pharma-Manager von 2016? Mit dieser Frage haben sich Experten von Insight Health, Infothek und PM-Report befasst. Ihnen standen 39 Führungskräfte der pharmazeutischen Industrie Rede und Antwort.
Bei ihrer Geschäftsentwicklung schreiben Manager vor allem Veränderungen politischer Rahmenbedingungen eine starke Bedeutung zu. Sie spekulieren, Rabattverträge würden in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Drei Viertel aller Befragten rechnen mit steigenden Marktanteilen bei Generika, aber auch bei Originalpräparaten. Kein Wunder: In 2013 entfielen knapp 51 Prozent aller Verordnungen auf rabattierte Arzneimittel. Ein Jahr später waren es schon mehr als 54 Prozent. Bei Generika kletterte die Rabattquote im gleichen Zeitraum von 68 auf 72 Prozent. Seit 2013 sind auch bei rabattierten Arzneimitteln die Verordnungszahlen um einen Prozentpunkt auf knapp 22 Prozent gestiegen.
Dazu ein paar aktuelle Zahlen. Alle elf AOKen haben Verträge für 278 generische Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen abgeschlossen. Das ergibt ein Umsatzvolumen von rund fünf Milliarden Euro pro Jahr, sprich zwei Drittel des deutschen Generikamarkts. Jetzt hat die AOK Baden-Württemberg für alle AOKen weitere 59 Fachlose ausgeschrieben. „Bei der Auswahl unserer Vertragspartner geht es beileibe nicht nur um den Preis, sondern insbesondere um eine sichere Versorgung unserer Versicherten. Die Zuverlässigkeit eines Unternehmens ist deshalb ein entscheidendes Auswahlkriterium“, sagte der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann. Er spielt auf mögliche Lieferngpässe an. Apotheker trauen diesem Frieden nicht. In 55 Fällen soll lediglich ein Unternehmen pro Wirkstoff zum Zuge kommen. Gerade durch Mehrfachvergaben hätte es gelingen können, Vesorgungslücken zu vermeiden. Doch selbst Hermann scheint dem Frieden nicht zu trauen. Als Verhandlungsführer für bundesweite AOK-Arzneimittelrabattverträge hat er vier Fachlose für besonders häufig verordnete Medikamente im Drei-Partner-Modell ausgeschrieben, nämlich Blockbuster wie Metoprolol oder Metformin. „Damit gehen wir in puncto Lieferfähigkeit absolut auf Nummer sicher“, sagt Hermann.
Dass der Chef der AOK Baden-Württemberg trotz angedeuteter Zweifel Rabattverträge weiter ausbaut, war klar. „Es ist kein Geheimnis, dass die Pharmalobby nicht nur am Verfahren zur Nutzenbewertung neuer Medikamente sägt, sondern auch auf das vorzeitige Ende des gesetzlichen Herstellerrabatts und des Preismoratoriums drängt“, ergänzt Hermann. Berechnungen zufolge würden ohne diese Regelungen Ausgaben gesetzlicher Krankenversicherungen um rund drei Milliarden Euro pro Jahr explodieren. Hermann ergänzt: „Deshalb bleiben die Arzneimittelverträge für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung von zentraler Bedeutung.“ Laut Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums haben Krankenkassen von Januar bis einschließlich September 2015 rund 2,54 Milliarden Euro durch Rabattverträge eingespart. Keine GKV möchte auf diesen Betrag verzichten. Doch es gibt noch weitere Schätze zu heben.
Um mehr Wettbewerb bei hochpreisigen Biologicals auszulösen, spielen Biosimilars eine wichtige Rolle. Nach Infliximab hat Etanercept als zweiter Antikörper in diesem Bereich seine Zulassung erhalten. Bei Herstellern währte die Freude nur kurz. Noch vor Markteintritt des Etanercept-Biosimilars haben Krankenkassen Verträge im Open-House-Verfahren mit dem Erstanbieter abgeschlossen. Diese Übereinkünfte stehen grundsätzlich allen Unternehmen offen, wobei sie sich Insight Health zufolge „als Bremse für Biosimilars erweisen“. Alle Anbieter können sich beteiligen, falls sie den gleichen Rabattsatz auf ihren Listenpreis gewähren. Präparate gelten dann als „wirtschaftlich“ im sozialrechtlichen Sinne, was sich Originalhersteller für wenig Rabatt erkaufen. Anbieter von Biosimilars hätten laut Dr. Andreas Eberhorn, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Pro Biosimilars, bei Open-House-Verträgen schlechte Karten. Beteiligen sie sich nicht, gilt ihr Präparat trotz ökonomischer Benefits als unwirtschaftlich. Sind sie mit an Bord, bleiben für Mediziner Preisvorteile unsichtbar, obwohl Präparate deutlich günstiger sind. „Open-House-Verträge haben somit direkten Einfluss auf das Verschreibungsverhalten der Ärzte und damit auch auf den Versorgungsanteil der Biosimilars“, so Eberhorn. „Wir sehen darin ein Vertragskonstrukt, das einen nachhaltigen Wettbewerb ausbremst.“ Setzt sich das Ausschreibungsmodell durch, nimmt es Anbietern von Biosimilars wirtschaftliche Anreize, mit einem deutlichen Preisabstand in den Markt einzutreten.
Es geht aber nicht nur um Budgets. In der Studie „Value of Generic Medicines“ schreibt das IGES-Institut, viele Patienten in Deutschland hätten erst nach Patentablauf und durch den Markteintritt von Generika Zugang zu bestimmten modernen Arzneimitteltherapien erhalten. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung argumentiert in einer Untersuchung, Wettbewerb sei kein Selbstzweck, sondern diene letztlich allen Versicherte.