Ein US-amerikanischer Arzt kritisiert eine Patientin, weil sie seit 45 Jahren in den USA lebt und kein Englisch spricht. Das Gespräch eskaliert und endet im Streit. Diese Situation ist in einem Video zu sehen, das im Internet kursiert. Warum ich die Einstellung des Arztes unmöglich finde.
Vor einer Weile hat ein Video auf Twitter hohe Wellen geschlagen, das mittlerweile nicht mehr auf der Plattform zu sehen ist. Dr. Mike, ein prominenter Vlogger auf YouTube, hat das Thema aufgegriffen und einige Ausschnitte aus dem Originalvideo in seinen Beitrag eingebaut. Der Vorfall hat auch bei mir gemischte Gefühle ausgelöst, weshalb ich das Thema hier thematisieren möchte.
Was ist passiert?
Großmutter, Mutter und Tochter kommen zu einem Arzt. Die Großmutter – als Patientin – spricht nur Spanisch, aber die Tochter spricht fließend Englisch und übersetzt. Gemäß den Erklärungen der Enkelin auf Twitter hat der Arzt die Patientin wiederholt scharf dafür kritisiert, dass sie seit 45 Jahren in den USA lebt und kein Englisch spricht. Ein Teil dieser Situation ist auch im Video zu sehen.
Also erstmal: Das geht einfach nicht. Die USA sind ein Land, welches hauptsächlich von Immigranten bevölkert wird und zumindest auf Bundesebene keine offizielle Sprache hat. Einzelne Staaten haben Englisch als offizielle Sprache eingeführt, aber nicht alle. Spanisch ist die am häufigsten gesprochene Fremdsprache und die USA haben den fünfthöchsten spanischsprechenden Bevölkerungsanteil weltweit.
Komplett unprofessionell
Du kannst als Arzt nicht einfach hingehen und sagen: „Hey, es ist scheiße, dass du nach 45 Jahren kein Englisch sprichst“, weil es einfach komplett unprofessionell ist. Das geht dich schlicht und einfach nichts an. Du bist da, um dem Patienten zu helfen. Punkt. Jeder, und ich meine jeder Patient, egal welcher Nationalität, Sprache, Gender, Hautfarbe, Religion undsoweiterundsofort verdient deine urteilsfreie Behandlung.
Es gibt keine Standardlösung
Da wir diesen Punkt nun aus dem Weg geschafft haben, kommt das große Aber. Wer hätte es gedacht: Dinge sind nicht einfach. Und auch nicht schwarz oder weiß.
Hier in der Schweiz sehe ich tagtäglich Patienten in der Sprechstunde, die schlecht bis kein Deutsch sprechen. Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Kurdisch, Serbo-Kroatisch und Türkisch sind wohl am häufigsten, dazu kommen noch zum Beispiel Arabisch, Tigrinya, Farsi oder Tamil. Es gibt in unserem Krankenhaus keine offiziellen Übersetzer, das lohnt sich einfach finanziell nicht. Es gibt eine Liste, in die sich Mitarbeiter eintragen können, damit man sie beiziehen kann, wenn es nötig ist, aber die sind dann häufig nicht da (weil Schichtbetrieb und so) oder haben keine Zeit. Im Büro hab ich den PC, da komme ich mit dem Google Translator manchmal noch ein Stück weiter.
Sprachen lagen mir schon immer, ich spreche gut Englisch und passabel Französisch. Spanisch verstehe ich, kann es aber kaum sprechen. Vor einer Weile hab ich mit einer App begonnen, Italienisch zu lernen. Das reicht inzwischen aus, um Anamnesen und Aufklärungsgespräche zu führen, wenn auch längst nicht im selben Detail wie auf Deutsch oder Englisch. Italienisch brauche ich wirklich sehr oft und ich bin immer wieder begeistert, wie willig die Patienten sind, mir neue Worte beizubringen, wenn mir der Wortschatz fehlt – zuletzt hat mich ein Patient begeistert „ossigeno“ (Sauerstoff) gelehrt.
Fehlerquellen nicht ausgeschlossen
Die Kommunikation mit einem fremdsprachigen Patienten ist meistens kein unlösbares Problem. Man verständigt sich mit Händen und Füßen, lehrt sich gegenseitig neue Wörter. Manche Patienten bringen jemanden mit, der übersetzen kann, darüber bin ich dann immer sehr froh und bedanke mich auch ausdrücklich beim Übersetzer dafür.
Wobei auch die Übersetzer immer eine Fehlerquelle sein können, weil man sich nie ganz sicher ist, ob sie Fragen direkt und Antworten ehrlich übersetzen, besonders bei heikleren Themen. Und ja, natürlich ist es nicht dasselbe, ob ich ein Gespräch mit dem Patienten direkt oder über ein übersetzendes Familienmitglied führe, aber wir arbeiten nunmal mit dem, was wir haben.
Es gibt allerdings auch immer die Fälle, die etwas schwieriger sind. Die kommen zwar nur vereinzelt vor, sind aber trotzdem belastend für alle Parteien.
Hin und wieder haben wir Patienten, die darauf bestehen, dass wir ihre Sprache sprechen. Fließend. Das ist einfach nicht immer möglich, besonders in Notfallsituationen. Auch habe ich im normalen Sprechstundenablauf keine Möglichkeit, Zeit damit zu verbringen, einen Übersetzer zu finden, selbst wenn ich denn einen auftreiben könnte, dafür fehlt mir einfach die Zeit – ein Systemfehler. Die nötigen Strukturen sind schlicht nicht vorhanden.
Im OP auf sich allein gestellt
Außerdem ist das Vorgespräch ja das eine, aber in den OP kann man keinen Übersetzer mitnehmen. Vom Moment an der Schleuse ist der fremdsprachige Patient auf sich alleingestellt. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlen muss. Man ist krank, ängstlich, verunsichert. In einer fremden Umgebung mit vielen unbekannten Menschen rundherum. Man hat keine Möglichkeit, sich verbal verständlich zu machen. Für uns mag die Situation mühsam sein, aber für den Patienten ist sie schlicht der Horror.
Jeder, der in der Klinik arbeitet, kennt die Sprachschwierigkeiten, jeder hat schon erlebt, wie einem da manchmal der Geduldsfaden ganz, ganz dünn wird oder in besonders schwierigen Situationen sogar reißt.
Vorwürfe sind nicht mein Job
Im schlimmsten Fall breche ich die Sprechstunde ab und weise den Patienten an, zu einem anderen Termin mit einem Übersetzer zu kommen. Ich kann auch darauf hinweisen, dass ein medizinisches Gespräch eine sensible Sache ist, ich meine Informationen brauche und das hier jetzt deshalb nicht zielführend ist. Jedoch: Es ist weder mein Job noch meine Position, jemandem deswegen direkte Vorwürfe zu machen. So viel Professionalität sollte sein.
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