Patienten in der Hausarztpraxis seien „nicht richtig krank“. Diese Aussage ist falsch und doch sehe ich mich häufig mit ihr konfrontiert. Klar, ich kann nicht den einen Eingriff machen und das Problem ist behoben. Als Allgemeinmediziner ist man kein Held, sondern treuer Berater.
Studenten, die bei uns ein Blockpraktikum in Allgemeinmedizin machen, stelle ich am Anfang gerne folgende Frage: Was haltet ihr von Allgemeinmedizin? Sehr häufig kommt die Antwort, sie würden dieses Fach als „langweilig“ oder „uninteressant“ einstufen. Die Begründung: Die Patienten seien meistens „nicht richtig krank“. Manche antworten sogar noch negativer: „Mich würden die ganzen Patienten nerven“.
Für jeden Arzt gibt es bestimmt Patienten, mit denen er eher auf einer Wellenlänge ist als mit anderen, die einem auf den sprichwörtlichen Keks gehen. Sicherlich ist das in jedem Beruf mit Menschenkontakt der Fall, sei es nun Friseur, Elektriker oder Steuerberater. Aber davon einmal abgesehen, glaube ich, dass hinter der Generalisierung „die ganzen Patienten“ in vielen Fällen noch etwas fundamentaleres steckt: Das Arzt-Patienten-Verhältnis hat sich spürbar verändert.
Das Helden-Drehbuch der Medizinstudis
Diese Veränderung wird im Medizinstudium wenig thematisiert, macht sich aber später um so stärker bemerkbar: Die meisten Medizinstudenten beginnen ihr Studium mit dem Gedanken, Menschen helfen zu wollen. Das „Kopfkino“ hält sich dabei meistens an irgendeine Variante des folgenden „Helden-Drehbuchs“:
In manchen Situationen (je nach Fachrichtung mal häufiger, mal seltener) mag das auch heute noch so stimmen, aber eben nicht immer. Es ist ja auch eine verführerische Vorstellung, der wir Ärzte alle nur zu gern erliegen: Dank meiner Intervention (Herzkatheter, Wirbelsäulen-OP, Tonsillektomie, etc.) geht es dem Patienten besser – und im Krankenhaus sieht man die Patienten oftmals danach ja auch nicht wieder. Deswegen vermute ich auch, dass viele Kollegen aus den Krankenhäusern wirklich davon überzeugt sind, dass ihre Interventionen dem Patienten Linderung verschaffen und dass dahinter nicht immer nur fiskalische Gründe stehen, wie ja in der Presse oft vermutet wird.
Intervenieren, damit man „was gemacht hat“
Leider sieht das aus hausärztlicher Sicht oft anders aus: Wenn die erste Euphorie vorbei ist, pendelt sich das Schmerzlevel doch wieder auf dem Niveau prä-operativ ein (oder, und das ist leider auch nicht selten, die postoperativ eingesetzten Opiate können nicht mehr so einfach abgesetzt werden und aus einem vorher nicht opiat-pflichtigen Patienten ist plötzlich ein opiat-pflichtiger geworden). Oder die Belastungsdyspnoe des KHK-Patienten ist auch nicht besser als vor dem Herzkatheter. Oder die eitrigen Tonsillitiden werden nach Tonsillektomie durch Seitenstrang-Anginen ersetzt, etc.
Bitte nicht falsch verstehen: Auch in unserer hausärztlichen Tätigkeit gibt es zahlreiche fragwürdige Interventionen, damit man „was gemacht hat“ und dem oben genannten „Helden-Drehbuch“ entspricht: Als klassische Beispiele sind nicht indizierte Antibiotikatherapien bei Atemwegsinfekten, Spritzen bei Rückenschmerzen, etc. zu nennen. Alle diese Interventionen dienen oft auch dazu, den Patienten zufriedenzustellen bzw. einfach was zu „machen“, auch wenn die Studien und Leitlinien etwas anderes empfehlen. Dementsprechend zeigen oft auch diese Interventionen (vor allem langfristig) nicht den gewünschten Erfolg und frustrieren beide Seiten.
„Der Patient hat angefangen“
Interessanterweise scheint es bei den Ärzten (und dann auch den Studenten) inzwischen oft so rüberzukommen, als sei der Patient dann schuld, wenn es „nicht klappt“. Ich hab inzwischen auch mehrfach den Spruch gehört „Immer dran denken, der Patient hat angefangen“.
Natürlich gibt es auch Patienten, die Dinge tun, die dem Heilungsverlauf nicht gerade förderlich sind (Klassiker: Rauchen). Aber wenn bei vielen Operationen herauskommt, dass auch eine Schein-OP den gleichen Effekt hat, müssten wir unsere Intervention überdenken und nicht das Gefühl vermitteln, dass es die „Schuld“ des Patienten sein könnte, dass nicht der gewünschte Erfolg eingetreten ist. Und kann man dem Patienten verdenken, dass er einem nicht dankbar ist, wenn es ihm nach der Operation/Intervention/Therapie nicht besser geht?
Vom klassischen Helden zum treuen Berater
Die hausärztliche medizinische Tätigkeit hat sich verschoben: Von akuten (meist infektiösen) Erkrankungen zur Prävention von Folgeschäden (z.B. bei Hypertonie, Diabetes). Dadurch wird das Arzt-Patienten-Verhältnis auch komplizierter. Das heißt in vielen Fällen, dass der Patient von seiner Erkrankung akut nicht viel merkt und wir ihn als Ärzte dann zu einer Therapie überzeugen müssen. Oft für den Rest seines Lebens.
Wir sind also nicht mehr die „klassischen Helden“, denen der gerettete Patient vor Dankbarkeit um den Hals fallen möchte, sondern eher die nervigen Lehrer bzw. Erzieher, die versuchen, dem Patienten etwas nahezubringen, was er im schlimmsten Fall als völlig unnötig ansieht oder ihm etwas Geliebtes (Zigaretten, Rauchen, „gutes Essen“) wegzunehmen. Und auch die Ärzte tun sich oft schwer damit, sich jedes Mal wieder zu motivieren, das Gespräch mit dem Patienten zu suchen. Denn wie oben schon erwähnt: Nicht nur für viele Studenten, sondern auch für viele Ärzte sind diese Patienten ja nicht „richtig“ krank“!
Der Trend geht zur Flucht in andere Fachrichtungen
Diese Störungen in der Arzt-Patienten-Beziehung bleiben natürlich auch den Studenten nicht verborgen. Als Folge weichen die Studenten diesen Situation aus, was ja in Zeiten des Ärztemangels auch kein Problem ist. Das Ausweichen geschieht dabei sowohl räumlich (Stadt vs. Land) als auch fachrichtungsmäßig (keine Allgemeinmedizin, „da kann man ja eh nichts machen“), lieber z.B. Kardiologe, da sind die Leute beim Herzinfarkt „richtig krank“ und man kann „was machen“, d.h. zum Beispiel kathetern. Oder die Leute vollenden zwar ihr Studium, arbeiten aber nie als Arzt, sondern nutzen ihr Medizinstudium für andere Richtungen, was ja leider inzwischen auch nicht selten ist.
Jeder hat das Recht auf freie Berufswahl, schon klar. Aber wenn man bedenkt, dass die Gesellschaft für ein Medizinstudium mal locker 200.000 bis 250.000 Euro aufbringt, stellt sich schon die Frage, ob die Gesellschaft dafür nicht auch das kriegen sollte, was sie braucht. Und das sind nun einmal vor allem Ärzte für die Patientenversorgung, nicht unbedingt für Pharmafirmen oder Medizinjournalismus.
Jetzt fehlt nur noch eine Lösung
Was also tun? Ich weiß es leider nicht. Ich weiß aus eigener Erfahrung und aus meinem Umfeld, dass ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis für beide Seiten sehr erfüllend ist. Eine Beziehung, bei der wir Ärzte auf und an der Seite des Patienten stehen und mit ihnen zusammen die medizinischen Probleme lösen oder auch Beistand leisten – auch wenn wir dabei nicht immer die heldenhaften Retter sein können. Wie man diesen Leitgedanken flächendeckend vermitteln kann und vor allem, wie man die momentane Entfremdung von (Jung-)Ärzten und Patienten wieder umkehrt? Keine Ahnung.
Ich für meinen Teil versuche, den Studenten in unserer Praxis immer wieder klar zu machen, dass unsere Patienten Menschen sind: mit individueller Vorgeschichte, die viele Verhaltensweisen erklärt, mit Fehlbarkeit und Eigenarten, die man nur schwer abstellen kann, mit Nöten, deren Schwere nicht immer medizinsch messbaren Parametern entsprechen. Diese Zeilen klingen nicht hochwissenschaftlich, sie sind nicht objektivierbar oder EBM-tauglich. Aber vielleicht hilft es, wenn Ärzte und Patienten einander wieder als Menschen begegnen – und ihr Gegenüber nicht an erster Stelle als „nervig“ empfinden.
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