In Krankenhäusern und Apotheken sind wichtige Medikamente knapp. Solche Meldungen sind keine Seltenheit mehr – mal sind Zytostatika, mal Antibiotika betroffen. Eine Ärztin berichtet uns jetzt exklusiv, dass dieses Problem auch in der Psychiatrie besteht.
„Ritalin Adult war von Oktober bis Ende Dezember letzten Jahres nicht lieferbar. Ab dem 1. Januar sollte es wieder erhältlich sein, doch bis Anfang Februar gab es immer wieder Probleme, das Medikament zu beschaffen“, erklärt Susanne N. (Name geändert). Sie ist Fachärztin für Psychiatrie an einer Klinik und möchte lieber anonym berichten. „Langsam fühlt es sich surreal an, wenn wir unsere psychiatrischen Patienten individuell auf ihre Medikation einstellen, die nicht ohne weiteres austauschbar ist. Geprüfte Medikamente sollten in einem Land wie Deutschland doch vorrätig sein, aber plötzlich haben wir überall Engpässe.“
Als das Ritalin Adult ausging, verschrieb Susanne N. ihren Patienten als Alternative Ritalin LA. Dieses ist zwar hinsichtlich der galenischen Zusammensetzung und der verwendeten Hilfsstoffe identisch. Allerdings ist der Einsatz von Ritalin LA bei Erwachsenen nicht indiziert. „Ich warte gespannt die Regressforderungen der Krankenkassen ab“, so Frau N.
Methylphenidat wird unter Anderem unter dem Handelsnamen Ritalin LA und Ritalin Adult von Novartis vertrieben. Die Amphetamin-ähnliche Substanz gehört zur Standard-Therapie des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS). Ritalin Adult ist nach der Zulassung von Medikinet Adult von MEDICE im Jahr 2011 das zweite erstattungsfähige Methylphenidat-Generikum für Erwachsene. In den Jahren vor der Zulassung für Erwachsene zahlten Patienten das Medikament selbst, weil es off-label eingesetzt wurde.
Doch auch Ritalin LA war bald nicht mehr zu haben. „Zwischenzeitllich habe ich meinen Patienten zu einer halben Dosis geraten, um über die Runden zu kommen.“ Einige Patienten könnten ohne ihre Medikation den Alltag nicht bewältigen, so die Psychiaterin. Im schlimmsten Fall müsse man sie krank schreiben.
„Da es sich bei ADHS nicht um eine lebensbedrohliche Erkrankung handelt, ist der Aufschrei wohl nicht so groß, wenn die Medikamente nicht lieferbar sind. Allerdings kann so ein Engpass gerade für komorbide Patienten gefährlich werden.“ Als Beispiel nennt Frau N. Patienten, die zusätzlich zu ADHS an einer Borderline-Erkrankung leiden. „Ohne ADHS-Medikation kann es zu vermehrten Impulsdurchbrüchen kommen, die Suizidalität steigt. Als Arzt ist man in solchen Situationen hilflos.“
Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt eine Liste zu aktuellen Lieferengpässen von Humanarzneimitteln mit Ausnahme von Impfstoffen. Die Pharmaunternehmen melden Engpässe an das Institut, gezwungen sind sie dazu aber nicht. Ritalin sucht man in dieser Liste vergebens, denn dort sind vorwiegend „versorgungsrelevante“ Arzneimittel aufgeführt.
Sind nun Produktionsausfälle oder Qualitätsmängel schuld am Ritalin-Engpass? Novartis, der Hersteller von Ritalin Adult und LA, erklärt auf Nachfrage, dass es den deutschen Markt mehr als ausreichend beliefere. Dennoch könne es zu zeitweiligen Lieferengpässen kommen. „Dies liegt unter anderem daran, dass aufgrund gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen (u. a. Festbetragsregelungen) das Preisniveau in Deutschland niedriger ist als im europäischen Ausland und es zu einem in Menge und Zeitpunkt nicht vorhersehbaren Abfluss von für den deutschen Markt bestimmter Ware kommen kann“, so das Unternehmen.
Festbeträge sind Preisobergrenzen für Arzneimittel, bis zu denen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) den Preis für Medikamente erstattet. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) teilt dabei Arzneistoffe mit denselben Wirkstoffen oder mit therapeutisch-pharmakologisch vergleichbarer Wirkung in Festbetragsgruppen ein. Als nächstes legt der GKV-Spitzenverband die Höhe des Festbetrags fest. Die Schritte führen dazu, dass das günstigste Medikament in der Gruppe einen Preisdruck nach unten auslöst. Dem gehen die Hersteller meist auch nach – sind dazu aber nicht gezwungen. Ist der Preis eines Medikaments höher als ein Vergleichspräparat aus der Gruppe, muss der Patient die Differenz bezahlen.
Ziel der Festbeträge ist vor allem die Budgetschonung der Krankenkassen. Der G-BA erklärt, die GKVen sparen jährlich 7,8 Milliarden Euro allein durch Festbeträge ein. Pharmaunternehmen ist die mangelnde Differenzierung von Arzneimittel-Festbeträgen ein Dorn im Auge. Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) argumentiert, dass Medikamente dadurch im schlimmsten Fall sogar vom Markt verschwinden könnten, weil der Hersteller es nicht mehr kostendeckend produzieren könne, erklärt Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BAH, in einer Pressemitteilung.
Durch die unterschiedliche Preisregulierung in den EU-Ländern floriert der Parallelhandel mit Medikamenten. Normalerweise gilt Deutschland als Hochpreisland für Arzeimittel und somit als Empfängerland von Importarzneimitteln. Fritz Becker, Vorsitzende des Deutschen Apothekerverbands (DAV), erklärt jedoch, Deutschland sei inzwischen in einzelnen Fällen zu einem Exporteur etwa in Richtung Großbritannien geworden, wo höhere Preise gezahlt würden. Zwar sei der Handel mit Arzneien über Ländergrenzen hinweg in Europa gang und gäbe und könne für den einzelnen Patienten wichtig sein. Die Folge könnten aber auch Marktverzerrungen sein, wird er in Medien zitiert.
Zum Problem des Parallelhandels kommt, dass sich die Produktion vieler Medikamente weltweit auf wenige Standorte konzentriert. Liegen hier Qualitätsprobleme vor oder wird die Produktion wegen Pannen unterbrochen, sind alle Abnehmer davon betroffen. Großes Aufsehen erregte in dem Zusammenhang der Lieferengpass von Ibuprofen im letzten Jahr, als ein US-amerikanisches Werk wegen technischer Mängel die Ibuprofen-Produktion stoppen musste.
Auch Ritalin wird in den USA produziert. Technische oder qualitative Mängel bei der Ritalin-Produktion gab es aber nicht. Novartis nennt eine regulatorische Besonderheit als weiteren Grund für den Engpass: Das sei laut des Herstellers ein im November 2017 in Kraft getretenes Abkommen zwischen den USA und der EU. Das Mutual Recognition Agreement (MRA-Abkommen) dient der gegenseitigen Anerkennung der nationalen Vorgaben zur Arzneimittelherstellung. Dabei habe es jedoch anfangs „Harmoniesierungsschwierigkeiten“ gegeben, so der Hersteller. „Hierdurch kam es zu einem zeitweiligen Einfuhrstopp aus den USA, wo Ritalin LA und Adult produziert werden.“ Inzwischen haben Behörden und das Unternehmen die Klärung vorangetrieben, sodass der Einfuhrstopp aufgehoben werden konnte, heißt es. Man gehe davon aus, dass sich die Liefersituation bald entspannt.
Frau N. kann inzwischen bestätigen, dass Ritalin wieder erhältlich ist. Doch bald kommt der nächste Dämpfer: „In einer Teamsitzung informierte uns die Krankenhausapotheke, dass man den Patienten raten solle, sich mit Dominal und Promethazin einzudecken. Auch hier soll es bald zu Lieferschwierigkeiten kommen.“
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