Auch nach Jahren sind Opioide noch gut für Überraschungen. Nebenwirkungen spielen nicht die Rolle, wie vielfach befürchtet. Trotzdem schlittern Schmerzpatienten häufig in die Dauertherapie. Neue Wirkstoffe könnten so manches Problem beheben.
Ärzte und Apotheker setzen Opioid-Analgetika bei älteren, multimorbiden Patienten oft recht vorsichtig ein. Mehrere Arbeiten zeigen jetzt, dass die Risiken geringer ausfallen als befürchtet. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die unter nicht tumorbedingten Schmerzen leiden. Dazu gehören sowohl akute Beschwerden als auch chronische nicht-tumorbedingte Schmerzen (CNTS) bei Erkrankungen des muskuloskeletalen Systems.
Ärzte spritzen Opioide bei Patienten mit einem Herzinfarkt nicht nur als Mittel gegen Schmerzen und Angst. Durch entsprechende Wirkstoffe verringert sich auch die Sympathikusaktivierung, und die kardiale Last wird reduziert. Ältere Studien lieferten jedoch Hinweise, dass Clopidogrel, Prasugrel oder Ticagrelor in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden könnten. Um klare Fakten zu schaffen, hat Etienne Puymirat von der Université Paris Descartes Daten des französischen Herzinfarktregisters ausgewertet [Paywall]. Von rund 2.400 Personen mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) hatten 453 vom Notarzt Opioide erhalten. Ihre Komplikationsraten, aber auch ihr Ein-Jahres-Überleben, unterschieden sich nicht von der Vergleichsgruppe ohne entsprechende Analgetika. Puymirat fand keine Hinweise auf negative Effekte im Rahmen der üblichen Dosierung.
Ähnlich positiv fällt die Bewertung von Opioiden bei CNTS aus. Erin E. Krebs vom Minneapolis VA Health Care System wollte wissen, inwieweit sich Opioide zur Analgesie bei Senioren mit Schmerzen im Rücken, in der Hüfte oder in den Knien eignen [Paywall]. Sie wertete Daten der Osteoporotic Fractures in Men Study aus. Von knapp 6.000 Männern über 65 litten 2.902 an Schmerzen, die sich auf Erkrankungen der Muskeln oder des Skeletts zurückführen ließen. Zur Analgesie verschrieben Ärzte 309 Patienten Opioide. Innerhalb der Nachbeobachtungszeit von mehr als neun Jahren gaben 2.413 Personen an, mindestens einmal gestürzt zu sein. Nach Korrektur weiterer Einflussfaktoren wie dem Alkoholkonsum, dem Alter, dem BMI sowie der Knochendichte kam Erin E. Krebs zu einem überraschenden Ergebnis. In den Gruppen mit und ohne Opioidgabe stürzten Patienten ähnlich oft. Signifikante Unterschiede gab es wider Erwarten nicht. Wissenschaftler hatten wenige Jahre zuvor bei einer Metaanalyse noch vor der Gabe gewarnt [Paywall]. Die aktuelle Studie hat zwar methodische Einschränkungen, vor allem hinsichtlich der vergleichsweise kleinen Zahl an Ereignissen, gibt Ärzten jedoch größere Spielräume bei ihrer Verordnung.
Auch die Opioid-induzierte Obstipation bereitet Ärzte heute weniger Kopfzerbrechen. Je nach Dosis und Behandlungsdauer leiden bis zu 95 Prozent aller Patienten daran. Nicht immer zeigten Laxantien den erwünschten Effekt. Mit Naloxegol steht jetzt ein oraler, peripher wirkender Opioid-Rezeptor-Antagonist zur Verfügung. Das Pharmakon zeigt eine rasche First-Pass-Metabolisierung und flutet im ZNS nicht an. Im herstellerfinanzierten KODIAC-Studienprogramm hatten Opioid-Patienten schon nach 7,6 Stunden einen Stuhlgang. Unter Placebo waren es 41,1 Stunden.
Trotz guter pharmakologischer Rahmenbedingungen bleibt Skepsis. Das liegt nicht zuletzt an einer skandinavischen Studie. Andreas Mellbye vom St. Olav University Hospital, Trondheim, hat Verordnungen von Opioiden ausgewertet – zentrale Register in Norwegen machen dies möglich. 417.000 Patienten bekamen entsprechende Medikationen aufgrund nicht tumorbedingter Schmerzen. In fast jedem zehnten Fall handelte es sich Mellbye zufolge um eine Dauermedikation, sprich mehr als 180 Tagesdosen pro Jahr. Diese Gruppe beobachteten Schmerzforscher detailliert. Innerhalb von sechs Jahren erhielten 47 Prozent eine durchgehende Opioidbehandlung. Mehr als ein Viertel benötigte die Wirkstoffe dauerhaft. Hier kam es zu Dosissteigerungen von bis zu 120 Prozent. Unter allen Patienten, die dauerhaft Opioide einnahmen, benötigte fast jede dritte Person regelmäßig Benzodiazepine beziehungsweise Z-Substanzen. Der Anteil nahm kontinuierlich zu.
Ganz klar, Opioide in der Praxis haben immer noch Nachteile. James E. Zadina von der Tulane University School of Medicine, New Orleans, hat jetzt mögliche Wege aus dem Dilemma gefunden. Er berichtet von einem Derivat des körpereigenen Moleküls Endomorphin [Paywall]. Sein experimenteller Arzneistoff zeigt im Tierversuch analgetische Eigenschaften wie Morphin, ohne dass es zu unerwünschten Effekten kam. Erhielten Nager das Pharmakon, fand Zadina weder Atemdepressionen noch Beeinträchtigungen ihrer motorischen Fähigkeiten. Im nächsten Schritt folgten Tests zum Suchtpotenzial. Die Tiere konnten per Knopfdruck weitere Dosen an Endomorphin erhalten. Auch hier schnitt das Pharmakon deutlich besser ab als Morphin. Ob sich die vielversprechenden Resultate bei klinischen Studien reproduzieren lassen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.