Der Großzeh, den ich untersuche, ist ein schwarzer, fauliger Knoten. Wir sollen ihn doch einfach abschneiden, verlangt der Patient. Schließlich störe der Zeh beim Gehen und kein Schuh passe mehr. Doch so einfach kommt uns Herr Breuninger leider nicht davon.
Auf Notfallstationen in echten Krankenhäusern geht es leider – oder gottseidank – nur halb so spannend oder dramatisch zu wie in Grey’s Anatomy. Doch dann kam er, Herr Breuninger. Ein medizinischer Leckerbissen. Eine Spielwiese der Diagnostik, auf der man sich stundenlang austoben kann.
Ich werde zu einem Notfall gerufen. Herr Breuninger ist ein 50-jähriger Patient, der seit Jahrzehnten nicht beim Arzt war. Mit einem Tumor am Großzeh und multiplen inguinalen Lymphknotenmetastasen. Ich will eigentlich schon einhaken, dass sie die Viszeralchirurgin am Telefon haben, und ob sie sich verwählt hätten. Doch es geht weiter: der Patient sei zusätzlich ikterisch und habe Bauchschmerzen. Jetzt wird es interessant für mich. Die Leber sei durchsetzt von tumorösen Formationen.
Ich sehe mir das CT an, und schon wird der Fall für mich als Chirurgin uninteressanter, das Interesse verschiebt sich in Richtung Onkologie. Was auch immer sein Grundproblem ist, keine Chance irgendeine Metastase resezieren zu können. Das Organ besteht hauptsächlich aus Tumorgewebe. Palliative Chemotherapie. Doch plötzlich fallen mir im Oberbauch ganz kleine, feine Luftbläschen auf. Das deutet auf eine Hohlorganperforation hin, meistens handelt es sich bei freier Luft im Oberbauch um ein perforiertes, also geplatztes Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür.
Der Zeh, der keiner mehr ist
Ich gehe zu dem Patienten, neben ihm sitzt sein Sohn. Als ich den Raum betrete, fällt eines sofort auf: ein unendlicher Gestank. Der Großzeh ist kein Zeh mehr, sondern ein schwarzer, fauliger Knoten. Er sei heute zum Arzt gegangen, da er nicht mehr gehen könne. Kein Schuh passe mehr. Ein bisschen Bauchweh habe er auch, aber am meisten störe ihn der Zeh. Ob wir diesen bitte abschneiden könnten. Ähm, ja, grundsätzlich schon.
Zusätzlich ist Herr Breuninger gelb von Kopf bis Fuß. Bis auf den einen Zeh, der wie erwähnt schwarz ist. Wir klären ihn über die Befunde auf. Der Zeh, der aufgrund großen inguinalen Lymphknotenmetastasen wahrscheinlich einen bösartigen Befund beherbergt. Die höckrige Leber, die entweder einen Primärtumor oder multiple Metastasen beherbergt. Und letztendlich die freie Luft, weswegen er eigentlich auf den OP-Tisch gehört. Wenn er das denn möchte, da das Operationsrisiko aufgrund des drohenden Leberversagens erhöht ist. Ich überschlage die Laborwerte im Kopf … Child C, Leberzirrhose im Endstadium.
Eine einfache Lösung
Währenddessen schaut er mich direkt keck an, und ich frage mich, ob er lebensmüde oder enzephalopathisch ist. Der Sohn hat aufmerksam zugehört, wirkt in dem Moment relativ gefasst. Innehalten und abwarten, wie die Familie auf die Diagnosen reagiert. Am Ende des Gesprächs sieht der Sohn den Vater an und meint: „Ab sofort gibt es keinen Zucker mehr für dich.“
Dem Patienten und mir sind die großen Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben. Der Sohn fährt fort: „Zucker ist die Ursache von Krebs, deswegen ist Zucker ab sofort gestrichen für dich.“
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