Als wir zur Reanimation gerufen werden, ist meine Oberärztin beschäftigt, Lungen-OP. „Geh schon mal vor, ich komme nach“, ruft sie. Ich mache mich auf den Weg zum Zimmer am Ende des Flurs. Noch weiß ich nicht, dass mich 25 Minuten härtester Arbeit erwarten.
Als der Ruf zur Reanimation ertönt, habe ich gerade nicht viel zu tun. Ich stehe in einem Einleitungsraum und ziehe Medikamente für eine Narkose auf. Meine Oberärztin jedoch ist im Saal gerade mit einer Lungenoperation beschäftigt, weshalb sie kurz ihren Kopf herausstreckt. „Gehst du schon mal vor, zusammen mit dem Anästhesiepfleger? Ich komm dann gleich nach.“
Es ist das Zimmer ganz am Ende des Flurs auf der Altersunfallchirurgie. Als wir reinkommen, sind schon eine Menge Leute da: Vier von der Stationspflege (eine Diplomierte, eine FaGe, zwei Pflegeschülerinnen), der Leiter der Intensivstation, seine Assistenzärztin und zwei Assistenzärzte der Chirurgie. Den Patienten kenne ich nicht. Er scheint etwa 80 Jahre alt, seine Haut ist aschfarben. Er liegt auf der Seite, kaffeesatzartige Flüssigkeit trieft ihm aus Mund und Nase. Die Augen sind leicht geöffnet, aber schauen ins Nirgendwo.
A steht für Atemwege
„Du gehst an den Kopf“, bestimmt der Anästhesiepfleger und nickt mir zu. Einen Moment lang bin ich überfordert – was soll ich denn jetzt bitte tun? Dann schweifen meine Gedanken zurück zum Notarztkurs, den ich letztes Jahr gemacht habe. ABCDE, das haben sie uns damals eingeprügelt. Geh einfach nach Schema vor und alles wird gut.
Gleich bei A für Atemwege bleibe ich hängen. Das ist ganz sicher kein gesicherter Atemweg, der Patient ist nicht ansprechbar. Atmet er überhaupt noch? Die Atemstöße sind kurz, oberflächlich und unregelmäßig. „Das ist eine Schnappatmung“, sagt der Intensivmediziner zu mir. Das sehe ich zum ersten Mal. Ich hätte es wohl nicht selber erkannt, aber ich weiß, was es bedeutet: Keine ausreichende Atmung. Der Patient muss beatmet werden. „Beatmungsbeutel und Maske“, verlange ich von einem Pfleger, der bestimmt schon hundertmal mehr Reanimationen als ich auf dem Buckel hat. Er wurstelt im Rea-Rucksack und reicht mir den Beutel, während ich Mund und Rachen des Patienten absauge.
Reanimation als Balanceakt
Der Intensivmediziner drückt seine behandschuhte Hand tief in die Leiste des Patienten. „Der Patient hat keinen Kreislauf und hat laut Akte Rea-Status Ja“, verkündet er. „Du, fang an zu drücken.“ Er zeigt auf einen beliebigen Assistenzarzt, aber seine Assistenzärztin von der IPS ist schneller. Sie klettert auf das Bett und beginnt mit den Kompressionen.
„Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig“, zählt sie, um mir zu signalisieren, dass ich dran bin mit meinen zwei Beatmungsstössen. Ich stehe hinter dem Patientenbett. Da ich recht kurz geraten bin, reicht mir das Brett am Kopf des Bettes fast bis zur Brust. Ich beuge mich darüber, balanciere auf den Zehenspitzen, halte mit der linken Hand die Maske und drücke mit der rechten den Beutel. Die Beatmung geht gut, aber ich hätte gerne einen Tubus für den Patienten.
Wir arbeiten ein paar Zyklen. Der Intensivmediziner zeigt gelegentlich wieder auf eine neue Person, die sich bereitmachen muss, die Kompressionen zu übernehmen. Nach seiner Assistenzärztin übernimmt ein chirurgischer Assistenzarzt, dann eine Pflege, dann eine chirurgische Assistenzärztin, bis die Rotation schließlich von Neuem beginnt. Auf Anweisung des Intensivmediziners machen wir zwischendurch Pausen, um den Herzrhythmus zu analysieren. Das EKG zeigt zwar Ausschläge, aber das Herz schlägt nicht wirklich – eine sogenannte pulslose elektrische Aktivität liegt vor.
Irgendwann dazwischen kommt meine Oberärztin doch noch dazu und fällt sogleich den Entscheid zur Intubation. Als der Beatmungschlauch liegt, kann ich durchgehend beatmen, wir brauchen keine extra Pausen zwischen den Kompressionen mehr zu machen.
„Er hat Kreislauf!“
Es scheint eine Ewigkeit vergangen, als der Intensivmediziner verkündet: „Er hat Kreislauf. Wir gehen auf die IPS.“ Gemäß Protokoll, welches eine der Pflegekräfte die ganze Zeit über geführt hat, waren es 25 Minuten. Die Erleichterung im Zimmer ist fast spürbar. Wir haben 25 Minuten lang hart gearbeitet und dürfen nun dieses Erfolgserlebnis genießen. Ein gutes Gefühl.
Der Intensivmediziner verlässt das Zimmer, überlässt uns den Rest. Geht wohl noch kurz eine rauchen, bevor er den Patienten dann auf der IPS vollends übernehmen und installieren muss. Inzwischen schieben wir den Patienten im Bett zur IPS. Zwei Pflegende eilen voraus, um uns den Weg frei zu machen, ich beatme den Patienten weiter von Hand mit dem Beutel. Hinter mir schiebt ein chirurgischer Assistenzarzt die transportable Sauerstoffflasche und fährt mir dabei gelegentlich in die Fersen.
Auf der IPS erwartet man uns schon. Zu meiner Entlastung wird der Patient gleich an eine Beatmungsmaschine angeschlossen, ich helfe noch beim Anschliessen an den Monitor. Nun dürfen alle Beteiligten, die nicht auf der Intensivstation arbeiten, gehen. Meine Oberäztin nickt mir noch kurz zu und sagt „Gut gemacht“, bevor sie zurück in den OP verschwindet.
Den Patienten gehen lassen
Als wir das Zimmer verlassen, sind die Augen des Patienten lichtstarr und weit – ein schlechtes Zeichen. Er benötigt kreislaufstabilisierende Medikamente, wird beatmet, aber sein Herz schlägt wieder.
Der Patient verstirbt trotz aller Bemühungen eine Stunde später. Er benötigt immer mehr und mehr Medikamente für den Kreislauf, reagiert nicht auf Schmerz- oder andere Reize, seine Pupillen bleiben weit und lichtstarr. Nach einem Telefongespräch mit seiner Tochter, die sagt, er hätte nie künstlich am Leben erhalten werden wollen, verzichtet man beim erneuten Kreislaufstillstand auf eine Reanimation. Und lässt ihn gehen.
Bildquelle: Juhan Sonin, flickr