"Zwar wurde 2017 nur bei 1,1 Millionen Patienten die Diagnose Reizdarmsyndrom (RDS) gestellt. Doch die Barmer geht nach der Auswertung von Befragungsstudien davon aus, dass rund 16 Prozent der Erwachsenen – also etwa elf Millionen Menschen – in Wirklichkeit betroffen sind."
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/101383/Zu-viel-Diagnostik-und-falsche-Medikamente-bei-Reizdarmsyndrom
Arztreport 2019 - Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse
Thomas G. Grobe, Susanne Steinmann, Joachim Szecsenyi
Band 14
"Warum furzet und rülpset Ihr nicht, hat es Euch nicht geschmacket?" wird Martin Luthers Tischreden zugeschrieben, ist jedoch nicht eindeutig belegt. Eine eigene Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen: Wer auch immer glaubt, der "Reizdarm" sei im ärztlichen Alltag ein massiv unterdiagnostiziertes Tabuthema, ist zumindest in der hausärztlich-allgemeinärztlich-internistischen "Kassen"-Praxis schief gewickelt: Jedes Bauchkneifen, jeder Flatus, jede kurzfristig veränderte Stuhl-Konsistenz, -Färbung und sonstige Besonderheit, jede Veränderung der eigenen Ernährungs- und Verdauungsgewohnheiten gibt Anlass, auch fremde Verdauungsstörungen ausführlich und interaktiv mit dem Arzt des Vertrauens z.T. drastisch und plastisch erörtern zu wollen.Persönlich erlebtes Beispiel: Eine ältere Patientin ruft mich um 3 Uhr morgens an mit den Worten "Herr Doktor, ich muss mich unbedingt mal mit Ihnen über meinen Stuhlgang unterhalten!"
Allen Beteiligten sollte klar sein, dass es sich beim Reizdarmsyndrom (RDS) um eine/n Symptomenkomplex/Arbeitsdiagnose und n i c h t um eine bestimmte Krankheitsentität handelt.
Die Systematik nach ICD10-GM-2019 macht das klar und umfasst unter K58.- ff. mit dem Reizdarmsyndrom Inkl.: Colon irritabile, Irritables Kolon, Reizkolon- K58.1Reizdarmsyndrom, Diarrhoe-prädominant [RDS-D] Inkl.: Irritable bowel syndrome with predominant diarrhoea [IBS-D]- K58.2 Reizdarmsyndrom, Obstipations-prädominant [RDS-O] Inkl.: Irritable bowel syndrome with predominant constipation [IBS-C]- K58.3 Reizdarmsyndrom mit wechselnden (gemischten) Stuhlgewohnheiten [RDS-M] Inkl.: Irritable bowel syndrome with mixed bowel habits [IBS-M]- K58.8 Sonstiges und nicht näher bezeichnetes Reizdarmsyndrom Inkl.: Reizdarmsyndrom o.n.A.http://www.icd-code.de/icd/code/K58.-html
Damit die Arbeitsdiagnose RDS nicht allzu inflationär gehandelt wird, sind umfangreiche differenzialdiagnostische Überlegungen und ggf. weiterführende Ausschluss-Untersuchungen anzustellen bzw. durchzuführen.
In meiner Praxis reichte das Spektrum vermeintlicher Reizdarmsyndrome von 2 Fällen des seltenen, erblichen Familiären Mittelmeerfiebers (FMF)/Familiäre Amyloidose (Colchicin-Dauertherapie erfolgreich), 1 Fall eines nach längerer Vorgeschichte akut perforierten Meckel-Divertikel (OP bei Z.n. früherer Appendektomie erfolgreich bzw. zugleich Alkoholabhängigkeit), 1 Fall mit Situs inversus completus, 1 Fall mit HIV-Infektion, Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) über häufigere chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED), Angina abdominalis, Mesenterialinfarkte, Cholangiopathien, Hepatopathien, Cholezystopathien, Leber- und Nierenzysten, Zöliakie und gluten-sensitive Enteropathien, Nahrungsmittel-/Medikamenten-Unverträglichkeit, Ulcus- und/oder Helicibacter pylori-Befunde, Neoplasien, Polypen, Verwachsungsbauch (Briden), gynäkologische Befunde und besonders häufig altersabhängig Divertikulose/Divertikulitis mit unterschiedlichsten Lokalisationen, um nur Einiges zu nennen. Die Masse der Gastroenteritiden viraler und sonstiger Genese limitierten sich unter Standard-Therapie - Ausnahme: Antibiotika-assoziierte Enterkolitis. All das subsumieren Laien u.U. als RDS-Symptomatik.
Bei den von der BARMER nassforsch behaupteten, unwissenschaftlich per "Repräsentativ"-Befragung hochgerechneten 16,6 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland sind gar keine gesicherten RDS-Diagnosen benannt worden. https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/arztreporte/pm-arztreport-2019https://www.aqua-institut.de/projekte/barmer-arztreport-2019/
"Eine Befragungsstudie in 2011/12 habe eine Prävalenz von 16,6 Prozent in Deutschland ergeben" heißt es unter https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/krankenkassen/article/982147/barmer-arztreport-reizdarm-probleme-fokus-therapie.html Das ist natürlich methodisch unhaltbar, weil ohne Angaben von Sensitivität und Spezifität nur von einer vermutlichen "Inzidenz" gesprochen werden kann.
So, wie bei meiner jungen Patientin mit über 3 Jahre langen angeblichen RDS-Beschwerden und 3 Ärzten mit übereinstimmender RDS-Diagnose. Diese Patientin musste nur "Diät-Getränke" mit Zuckeraustauschstoffen weglassen und war fortan beschwerdefrei.
Einen besonders tragischen Verlauf bei einer meiner Patientinnen will ich nicht verschweigen: Nach Ausschluss organischer Erkrankungen durch alle denkbaren Fachrichtungen, blieb nur die symptomatische Therapie der Darmbeschwerden bei RDS übrig. Erst 5 Jahre später stellte sich ein extrem seltenes Rhabdomyosarkom, ausgehend von der Dünndarm-Muskulatur, heraus. Ob Koinzidenz oder Kausalität blieb ergebnisoffen.
Was mir dabei so sauer aufstößt? Wie sind der BARMER-Chef und internistische Kollege Prof. Dr. med. Christoph Straub und sein wissenschaftliches Gefolge am aQua, Thomas G. Grobe, Dr. med., MPH, Leiter der Abteilung Gesundheitsberichterstattung und Biometrie, Susanne Steinmann, Dipl.-Dok., Mitarbeiterin dieser Abteilung und Joachim Szecsenyi, Prof. Dr. med., Dipl.-Soz., Leiter des aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH in Göttingen eigentlich auf die Idee gekommen, ausgerechnet am Beispiel des Reizdarmsyndroms (RDS) in einem "Arztreport 2019" niedergelassene Ärztinnen und Ärzte derart unkollegial zum Schwerpunkt-Thema RDS sozusagen am "Nasenring" in der Öffentlichkeit vorführen zu wollen?
Bildnachweis: Reproduktion Bristol Stool Chart Praxis Dr. Schätzler file:///storage/emulated/0/Download/bristol_stool_chart_scale-r2ed7e09c801441db8c1b29e3742457d7_1i4_8byvr_540.jpg