Astrozytome lassen sich nur schwer behandeln. Bisher führte keiner der vielen getesteten Therapieansätze zu einem dauerhaften Erfolg. Nun haben Forscher eine mögliche Erklärung für die enorme Widerstandsfähigkeit dieser Hirntumoren gefunden.
Astrozytome zählen zu den häufigsten, aber auch am schwierigsten zu bekämpfenden Tumoren des Gehirns. Sie haben die Neigung, diffus in das gesunde Gewebe einzuwachsen, und lassen sich deshalb durch eine Operation nicht vollständig entfernen. Auch auf eine Chemo- und Strahlentherapie sprechen sie wegen wirkungsvoller Resistenzmechanismen nur schlecht an. Da bessere Behandlungsoptionen fehlen, sind die Astrozytome der Schweregrade II bis IV immer noch nicht heilbar. Beim besonders bösartigen Glioblastom haben die Patienten oft nur eine Überlebenszeit von wenigen Monaten. Um die Prognose der Patienten zu verbessern, bemühen sich Forscher seit langem, neue Therapieansätze zu entwickeln. Mit Nanopartikeln, Parvoviren oder Fusionsproteinen soll das invasive Wachstum der Astrozytome verhindert werden. Doch alle diese Verfahren befinden sich noch in der klinischen Erprobung und es ist ungewiss, ob sie den lang ersehnten Durchbruch bringen. Ein Forscherteam aus Heidelberg beschreibt nun in einem Artikel [Paywall] in der Fachzeitschrift Nature einen Mechanismus, der den Astrozytomen ermöglicht, sich ihrer Vernichtung zu entziehen und der dafür verantwortlich sein könnte, warum bisher so wenige Fortschritte auf dem Weg zu einer effektiveren Therapie erzielt wurden. In ihrer Studie konnten die Wissenschaftler um Frank Winkler zeigen, dass die Astrozytom-Zellen durch schlauchförmige Ausstülpungen ihrer Zellmembran miteinander verbunden sind. Mithilfe dieser Verschaltung kommunizieren die Tumorzellen untereinander und schützen sich so gegen therapiebedingte Schäden.
Für ihre Versuche verpflanzten die Forscher menschliche Glioblastomzellen in das Gehirn von Mäusen. Anschließend beobachteten sie mithilfe einer speziellen laserunterstützten Mikroskopietechnik das Wachstum der Tumorzellen. Diese verblüfften Winkler und sein Team mit einer erstaunlichen Eigenschaft: Ihre Zellmembranen bildeten Aktin-reiche Fortsätze aus, die das normale Gehirngewebe der Mäuse infiltrierten. Während die Tumoren heranwuchsen, nahmen die Zahl und die Länge dieser Membranschläuche immer weiter zu. „Unser erster Gedanke war: Das sieht ja aus wie die Neubildung eines Gehirns im bestehenden Gehirn“, berichtet Winkler, Oberarzt an der Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg. „Nach einer gewissen Zeit waren die Tumorzellen stark untereinander vernetzt, so wie wir das von Nervenzellen im Gehirn kennen.“ In weiteren Experimenten fanden er und seine Mitarbeiter heraus, dass die Tumorzellen das engmaschige Netzwerk aus Membranschläuchen nutzen, um Kalziumionen auszutauschen. Die richtige Menge an Kalziumionen hilft den Tumorzellen offenbar dabei, ihre Widerstandsfähigkeit gegen eine Bestrahlung aufrechtzuerhalten. Diese Behandlung überstehen vor allem diejenigen Tumorzellen, die Teil des Netzwerkes sind, unvernetzte Tumorzellen dagegen gehen zugrunde. Die Membranschläuche transportieren aber nicht nur kleine Ionen: „Wenn durch eine Bestrahlung einzelne Tumorzellen zerstört werden, können mit ihrer Unterstützung Zellkerne aus unbetroffenen Tumorarealen an diese Stelle befördert werden und der Tumor fängt dort erneut an zu wachsen“, so Winkler.
Er und sein Team wollten nun wissen, ob die interzellulären Verbindungen nicht nur bei Mäusen sondern auch bei Hirntumor-Patienten auftreten. Sie untersuchten deshalb Gewebeproben von 105 Patienten mit Hirntumoren unterschiedlichen Schweregrads. Je bösartiger ein Hirntumor war, desto mehr der Membranschläuche konnten die Forscher in der jeweiligen Probe nachweisen. „Ein ausgeprägtes Netzwerk mit besonders langen Fortsätze fand sich nur bei Hirntumoren mit einer schlechten Prognose“, berichtet Winkler. Doch wie kommen die Tumorzellen zu ihren ungewöhnlichen Membranfortsätzen? Einen wichtigen Hinweis erhielten die Forscher, als sie die Aktivität von Genen in Zellen aus Hirntumor-Gewebeproben analysierten. Dabei stellte sich heraus, dass die Aktivität von solchen Genen erhöht war, die normalerweise an der Entwicklung des Nervensystems beteiligt sind. „Die Tumorzellen kapern offenbar molekulare Signalwege, die eine wichtige Rolle spielen, damit sich Nervenzellen über ihre Axone und Dendriten miteinander vernetzen können“, erklärt Winkler.
In den Blickfang der Forscher geriet insbesondere das Protein GAP-43, von dem bereits vorher bekannt war, dass es die Ausbreitung von neuronalen Vorläuferzellen vorantreibt. Mithilfe gentechnischer Methoden deaktivierte Winklers Team in Glioblastomzellen das Gen, das den Bauplan für GAP-43 trägt, und implantierte die derart veränderten Tumorzellen anschließend in die Versuchsmäuse. Die Hirntumoren wuchsen relativ langsam und wiesen nur wenige intrazelluläre Membranschläuche auf. Auf eine Bestrahlung sprachen sie sehr gut an. Als die Forscher in Zellen von weniger bösartigen, strahlensensitiven Hirntumoren die Menge an GAP-43 erhöhten, verhielten sich die so behandelten Tumorzellen, wenn sie in das Gehirn von Mäusen verpflanzt wurden, genau umgekehrt: Die Hirntumore wuchsen rasch heran, waren reich an Membranfortsätzen und reagierten nur wenig auf eine Strahlentherapie. „Wahrscheinlich ist GAP-43 hauptverantwortlich für die Ausbildung der Fortsätze und die Vernetzung der Hirntumoren“, sagt Winkler. Noch können die neuen Erkenntnisse der Heidelberger Forscher Hirntumor-Patienten nicht helfen. Doch die Richtung für die Entwicklung künftiger Therapien ist klar: „Wir müssen das bösartige Netzwerk zerstören, um die enorme Widerstandsfähigkeit der Astrozytome zu durchbrechen“, findet Winkler. Das soll mit pharmakologischen Substanzen geschehen, die gezielt das Entstehen des Netzwerks unterbinden. Winkler ist schon auf der Suche nach geeigneten Wirkstoffen, rät aber zur Geduld: „Selbst wenn wir einen anscheinend gut geeigneten Wirkstoff entdecken sollten, wird es noch einige Jahre dauern, bis solche Substanzen unseren Patienten tatsächlich zur Verfügung stehen.“
Bei anderen Experten stößt die Veröffentlichung auf großes Interesse: „Sie vergrößert auf molekularer Ebene unser Verständnis, wie Astrozytome entstehen und welcher Mittel sie sich bedienen, um sich im Gehirn immer weiter auszubreiten“, sagt Joachim Steinbach, Leiter des Instituts für Neuroonkologie des Universitätsklinikum Frankfurt. Für ihn sind die Ergebnisse der Forscher um Winkler aber in erster Linie Grundlagenforschung, die sich nicht unmittelbar in eine Therapie überführen lassen. Der Neuroonkologe setzt deshalb auf eine Optimierung der derzeit verfügbaren Behandlungsoptionen: „Die Art und Weise, wie Chemo- und Strahlentherapie kombiniert und aufeinander abgestimmt werden, spielt eine erstaunlich große Rolle. Gerade bei den etwas weniger bösartigen Astrozytomen lassen sich so in vielen Fällen einige Jahre an Überlebenszeit für die Patienten gewinnen“, berichtet Steinbach. „Aber beim voll malignen Glioblastom reicht das natürlich nicht aus. Hier werden grundsätzlich neue Therapien gebraucht.“ Eine in der klinischen Entwicklung schon weit fortgeschrittene Möglichkeit, so Steinbach, könne hierfür die Immuntherapie sein. In deren Rahmen wird das körpereigene Abwehrsystem aktiviert, den Kampf gegen die Tumorzellen aufzunehmen. Zwei Phase-III-Studien haben die Rekrutierung von Patienten bereits beendet, sodass in Kürze mit aussagekräftigen Ergebnissen gerechnet werden kann: Bei der ACT IV-Studie erhalten Glioblastom-Patienten einen Impfstoff, der sich gegen ein nur auf Tumorzellen vorkommendes Rezeptormolekül richtet; bei der CheckMate 143-Studie kommt ein sogenannter Checkpoint-Inhibitor zum Einsatz, der bei Patienten mit rezidiviertem Glioblastom das Immunsystem stimulieren soll. Originalpublikation: Brain tumour cells interconnect to a functional and resistant network [Paywall] M. Osswald et al.; Nature, doi: 10.1038/nature16071; 2015