Droge, Dickmacher, Quelle aller Krankheiten – über Weizen und speziell das darin enthaltene Gluten wird seit einiger Zeit heftig diskutiert. Kein Wunder also, dass sich glutenfreie Lebensmittel wie geschnitten Brot verkaufen. Doch für wen macht eine Eliminationsdiät wirklich Sinn?
Spätestens seit Bücher wie „Die Weizenwampe“ die deutschen Bestsellerlisten erobert haben, wird viel über die vermeintlich schlechten Eigenschaften des Weizens gesprochen. Zahlreiche Menschen berichten davon, wie sie dank einer glutenfreien Ernährung Gewicht verloren haben und von allerlei psychischen und physischen Leiden von Migräne über Neurodermitis bis Fibromyalgie geheilt wurden. Tatsächlich beträgt in Deutschland die Prävalenz der beiden klassischen Weizen-abhängigen Erkrankungen, Zöliakie und Weizenallergie, lediglich 0,3 % bzw. 0,1 %. Beides sind immunologische Erkrankungen: Für die Zöliakie sind Autoantikörper gegen das körpereigene Enzym Gewebe-Transglutaminase (TG2) ebenso charakteristisch wie eine typische duodenale Histologie mit entzündlichem Infiltrat, Kryptenhyperplasie und Zottenatrophie. Betroffene, die an einer symptomatischen Zöliakie leiden, berichten typischerweise von abdominellen Beschwerden wie Dyspepsie oder Flatulenz. Aber auch Anämie, Osteoporose, Vitamindefizienzen oder neurologisch-psychiatrische Probleme können Symptome einer Zöliakie sein. „Im Grunde ist zöliakietypisch, dass nichts typisch ist, sondern dass man die Krankheit als ‚Chamäleon der Medizin‘ bezeichnen kann“, erklärt Prof. Wolfgang Holtmeier, Chefarzt der Klinik für Gastroenterologie am Krankenhaus Porz am Rhein in Köln. „Es stehen nicht unbedingt immer die klassischen Durchfallsymptome im Mittelpunkt des Beschwerdebildes, sondern es ist eine Vielzahl extraintestinaler Manifestationen möglich.“ Im Unterschied zur Zöliakie sind bei der Weizenallergie IgE- und/oder T-Zell-vermittelte Reaktionen gegen verschiedene Weizenproteine charakteristisch. Typische Symptome treten in Mund, Nase, Augen und Rachen auf (Schwellung, Jucken, Kratzgefühl) ebenso wie an der Haut (atopisches Ekzem, Urticaria), der Lunge (Atemnot, Asthma) oder dem Gastrointestinaltrakt (Krämpfe, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Diarrhoe).
Immer mehr Menschen scheinen nun an einer neuen Form der Weizen-abhängigen Erkrankungen zu leiden, der sogenannten Glutensensitivität. Uneinigkeit besteht bereits beim Namen – die Erkrankung ist auch unter den Bezeichnungen „Weizen-Gluten-Unverträglichkeit“, „Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität“, „zöliakieunabhängige Weizenempfindlichkeit“, „Nicht-Zöliakie Weizen-Protein-Sensitivität“, „Gluten-sensitives Reizdarmsyndrom“ und „Non Celiac Gluten Sensitivity“ (NCGS) bekannt. „Bis vor wenigen Jahren wurde dieses Phänomen von den meisten Ärzten abgestritten und die Patienten als ‚Spinner‘ abgetan. Diese Einschätzung hat sich jedoch grundlegend verändert“, so Holtmeier. Da zuverlässige diagnostische Biomarker noch fehlen, ist es schwer, genaue Zahlen zur Häufigkeit dieser Erkrankung zu ermitteln. Beschrieben worden sind bisher Prävalenzen von 0,5 % [Paywall]. Das Problem besteht vor allem darin, dass die Glutensensitivität bislang eine Ausschlussdiagnose darstellt. Sicher ist nur, dass es sich weder um eine allergische noch eine autoimmune Erkrankung handelt, zu deren typischen Symptomen gastrointestinale Beschwerden wie Blähungen, Schmerzen oder Durchfälle gehören. Doch auch Kopfschmerzen und Migräne, Lethargie und Müdigkeit, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und Hyperaktivität, Muskelbeschwerden sowie Knochen- und Gelenkschmerzen können auftreten.
Während der Begriff „Glutensensitivität“ vermuten lässt, dass eine Reaktion auf das im Weizen enthaltene Gluten die Ursache der Beschwerden ist, deuten neuere [Paywall] Ergebnisse darauf hin, dass entweder Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) und/oder fermentierbare Oligo-, Di- & Monosaccharide und Polyole (FODMAPs) eine wesentliche Rolle spielen könnten. Tatsächlich scheint es wahrscheinlich, dass es sich bei dem gemeinhin als Glutensensitivität bezeichneten Krankheitsbild um eine heterogene Gruppe von Erkrankungen handelt, zu der sowohl die echte Glutensensitivität als auch die FODMAP-Sensitivität gehören könnten. Aus diesem Grund verwendet die aktuelle S2k-Leitlinie Zöliakie bewusst den Begriff „Weizensensitivität“.
In den meisten Ländern Europas und Amerikas beträgt die Prävalenz der Zöliakie etwa 1 %, doch Schätzungen [Paywall] zufolge bleibt bei etwa 80 % der Betroffenen die Erkrankung undiagnostiziert – häufig sind dies ältere Menschen und Patienten mit nicht-klassischer oder asymptomatischer Zöliakie. Außerdem kann es dauern, bis die Diagnose Zöliakie gestellt wird: Die diagnostische Latenz beträgt etwa 4 Jahre. Doch selbst wenn endlich die Diagnose „Zöliakie“ gestellt worden ist, heißt das noch nicht, dass diese auch richtig sein muss. Eine jüngst in Clinical and Translational Gastroenterology veröffentlichte Studie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass bei ca. 40 % der Personen mit einer vorausgegangenen Zöliakie-Diagnose diese sich nach einer Neubewertung in einem tertiären Versorgungszentrum als falsch erweist. Bei den Patienten mit fraglicher Diagnose wurde sogar in 78 % der Fälle eine Fehldiagnose gestellt. Diese Ergebnisse legen nahe, dass eine beträchtliche Anzahl an Ärzten die gegenwärtigen diagnostischen Kriterien für eine Zöliakie nicht kennen.
Entsprechend der S2k-Leitlinie Zöliakie sollen bei einem klinischen Verdacht primär die Gewebe-Transglutaminase-IgA-Antikörper oder die Endomysium-IgA-Antikörper mittels spezifischem Antikörpertest untersucht werden. Zudem sollte das Gesamt-IgA im Serum bestimmt werden, um einen IgA-Mangel auszuschließen, da in diesem Fall die Antikörpertests trotz Vorliegens einer aktiven Zöliakie negativ ausfallen könnten. Abgeraten wird dagegen von der Bestimmung von Antikörpern gegen deamidierte Gliadinpeptide. Ungeeignet sind zudem die Antikörperbestimmung gegen natives Gliadin ebenso wie Speichel- und Stuhltests. Wichtig ist, dass die Diagnostik unter einer glutenhaltigen Ernährung erfolgt. Sollte der Patient bereits eine Glutenkarenz begonnen haben, empfiehlt sich eine Glutenbelastung. Zur Sicherung der Diagnose wird bei positiver Serologie eine histologische Untersuchung der Dünndarmschleimhaut empfohlen. Ergibt sich unter einer glutenfreien Diät eine serologische Besserung, gilt die Diagnose Zöliakie als sicher. Da die Zöliakie häufig mit anderen Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, Autoimmunthyreoiditis (Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow) oder Autoimmunhepatitis assoziiert ist, empfiehlt es sich, bei Zöliakie-Patienten eine erweiterte Autoimmundiagnostik durchzuführen.
Lässt sich eine Zöliakie ausschließen und liegt der Verdacht auf eine Weizenallergie vor, empfiehlt die Leitlinie folgende Diagnostik:
Erst wenn sowohl Zöliakie als auch Weizenallergie durch negative Zöliakie-Serologie, normale Dünndarmhistologie, negatives spezifisches Weizen-IgE und negativen Pricktest auf Weizen ausgeschlossen werden konnten und auch der Ausschluss anderer Diagnosen (bspw. Reizdarmsyndrom) erfolgt ist, kann der Verdacht auf eine Gluten-/Weizensensitivität gestellt werden.
Bei Zöliakie und Glutensensitivität führt eine glutenfreie Ernährung in der Regel zu einer Besserung der Symptomatik. Bei einer Weizenallergie muss dagegen lediglich auf Weizen verzichtet werden, ebenfalls glutenhaltige Getreide wie Gerste und Roggen können aber den Speiseplan bereichern, sodass diese Ernährungsform als weniger restriktiv empfunden wird. Doch auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen kann eine glutenfreie Diät zu einer Besserung gastrointestinaler und/oder systemischer Symptome beitragen. Hierzu gehören beispielsweise das Reizdarmsyndrom, Lupus erythematodes, Dermatitis herpetiformis Duhring, rheumatoide Arthritis, Typ-1-Diabetes, Thyreoiditis und Psoriasis. Dafür, dass eine glutenfreie Ernährung auch für die gesamte Allgemeinbevölkerung einen gesundheitlichen Nutzen hat, gibt es dagegen keine Evidenz. Im Gegenteil: Weizen ist ein wertvoller Lieferant von gesundheitsfördernden Ballaststoffen wie Oligofruktose und Inulin, und es gibt Hinweise darauf, dass ein Verzicht auf glutenhaltige Lebensmittel die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms negativ beeinflusst. Gluten scheint zudem einen positiven Einfluss auf die Blutfette und den Blutdruck zu haben. Außerdem kann eine Glutenkarenz zu einer Mangelversorgung mit Thiamin, Riboflavin, Niacin, Folat und Eisen führen. Ähnlich sieht dies auch Prof. Holtmeier und betont, dass Getreideprodukte einen unverzichtbaren Beitrag zu einer bedarfsgerechten Versorgung der Normalbevölkerung mit Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen leisten. Gleichzeitig räumt er ein, dass es rund um den Weizen und die damit assoziierten Krankheiten noch einiges zu untersuchen gibt. „Zweifellos gibt es Forschungsbedarf, um besser zu verstehen, wie und warum Zöliakie bzw. Glutensensitivität entstehen, damit wir unseren Patienten noch besser helfen können“, so Holtmeier. „Das unqualifizierte Schüren einer Weizenhysterie ist dabei jedoch nicht hilfreich.“