Sie kann ähnlich gut diagnostizieren wie der Arzt – die Künstliche Intelligenz. Das zeigen aktuelle Studien aus der Pädiatrie. Könnte dann nicht in Zukunft der Computer mit Unterstützung von speziell geschulten Pflegefachkräften den Job der Ärzte übernehmen?
Laut Ärztestatistik gibt es in Deutschland zwar mehr Mediziner als in früheren Jahren. Dem stehen jedoch gegenläufige Trends gegenüber: Einerseits wächst der Bedarf an medizinischen Leistungen aufgrund demographischer Trends. Andererseits verschiebt sich die Altersstruktur bei Ärzten nach hinten – immer mehr Kollegen sind älter als 59. Und nicht zuletzt gehen kaum junge Kollegen in ländliche Regionen.
Lösungen kommen nicht nur von der Politik. Auch Wissenschaftler sind um Ideen nicht verlegen. Ein internationales Forscherteam zeigt jetzt in Nature Medicine, dass Programme auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) pädiatrische Erkrankungen gut erkennen. Deshalb schlägt Huiying Liang von der Guangzhou Medical University in China vor, ein Triage-System aufzubauen. Nicht jeder junge Patient muss zum Arzt. Auch Pflegefachkräfte mit Zusatzausbildung könnten Aufgaben übernehmen, was in den skandinavischen Ländern sogar ohne KI funktioniert.
Computer wühlen im Datenschatz
In ihrer Studie arbeiten Wissenschaftler mit Natural Language Processing (NLP), also der Erkennung und Verarbeitung natürlicher Sprache aus Patientenakten. Hinzu kommen Techniken des maschinellen Lernens: Computer erhielten 101,6 Millionen Datensätze von mehr als 1,36 Millionen ambulanten Patienten. Aus den elektronischen Patientenakten wurden Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, Laborergebnisse oder sonstige Untersuchungsergebnisse extrahiert. Damit „trainieren“ Forscher ihre Systeme. Beim Machine Learning übertragen sie „Wissen“ auf neue Fälle. Im Experiment hangelten sich Programme vom Organsystemen über Gruppen verwandter Krankheiten bis hin zu einer endgültigen Diagnose weiter.
Das System erreichte eine hohe diagnostische Genauigkeit bei vielen Erkrankungen, u.a. bei Asthma-Exazerbationen (97%), bei bakterieller Meningitis (93%), Windpocken (93%), Influenza (94%) oder beim Drei-Tage-Fieber (93%). Ihr Tool schnitt ähnlich gut ab wie Ärzte aus Fleisch und Blut. „Unsere Studie zeigt, dass KI-Technologien Ärzten beim Umgang mit umfangreichen Daten und Diagnosen helfen“, sagt der Coautor Ni Hao von YITU Healthcare. „Pädiatrische Erkrankungen können für Ärzte schwierig sein. Ein KI-Assistent wird den Diagnoseprozess grundlegend verbessern und die Effizienz steigern.“ Weitere Einsatzmöglichkeiten sieht Hao bei komplexen Fällen oder bei unklaren ärztlichen Erstdiagnosen.
Ein kritischer Blick lohnt sich trotzdem. Das KI-System brilliert bei häufigen pädiatrischen Diagnosen, Details bleiben aber unklar. Wurden beispielsweise Röteln oder Windpocken anhand von Laborparametern oder nur anhand von Blickdiagnosen unterschieden? Hier verbergen sich mögliche Fehlerquellen. Und nicht immer waren Algorithmen besser als Kollegen im Kittel. Bei der Frage, ob Pneumonien durch Bakterien oder Mykoplasmen ausgelöst wurden, führt pures Raten zu besseren Ergebnissen. Wie die Autoren statistische Werte berechnen, etwa die sogenannte Fläche unter der Kurve (Area under the curve), bleibt ebenfalls unklar. Trotz augenscheinlicher Defizite beweisen Liang et al., dass KI-Systeme in der Lage sind, Patientenakten zu klassifizieren. Es handelt sich eben um eine Pilotstudie.
Besser behandeln mit KI
KI-Systeme spielen nicht nur bei der Diagnostik, sondern auch bei der Therapie ihre Stärken aus. Pädiater haben schließlich nicht nur mit banalen Kindererkrankungen zu tun, sondern auch mit komplexen Leiden wie der juvenilen idiopathische Arthritis (JIA). Sie legen fest, ob bei dieser rheumatischen Erkrankung aggressive Therapien inklusive zahlreicher Nebenwirkungen erforderlich sind.
Am Beispiel der JIA zeigt Simon Eng wie künstliche Intelligenz Pädiater bei ihrer Entscheidung unterstützen kann. Er forscht am Hospital for Sick Children, Toronto. In PLOS Medicine beschreibt er einen computergestützten Ansatz, der auf maschinellem Lernen basiert, um wiederkehrende Muster in Patientendaten zu erkennen.
Zuerst untersuchten Ärzte 640 Kinder der „Research in Arthritis in Canadian Children emphasizing Outcomes“ (ReACCh Out)-Kohorte. Alle Patienten dieser experimentellen Kohorte hatten noch keine Pharmakotherapie erhalten, von NSAIDs abgesehen. Pädiater fanden eine Beteiligung des Beckens (57 Patienten), der Finger (25), der Handgelenke (114), der Zehen (48), der Knöchel (106) bzw. der Knie (283) am Krankheitsgeschehen. Engs Computer teilte alle Patienten aufgrund der Untersuchungsergebnisse in Gruppen mit lokalisierter (359 Personen), teilweise lokalisierter (124) oder ausgedehnter Krankheitsaktivität (157) ein.
Kinder ohne lokalisierte Gelenkbeteiligung hatten schlechtere Prognosen und brauchten länger für die Remission als Patienten, deren aktive Gelenke in ein Muster fielen. Das wurde anhand einer Validierungskohorte mit 119 pädiatrischen JIA-Patienten über fünf Jahre hinweg bestätigt. KI hilft Ärzten unabhängig von ihrer Erfahrung, eine Hochrisikogruppe zu identifizieren, die aggressive Pharmakotherapien braucht. „Zu wissen, welche Kinder von welcher Behandlung zu welcher Zeit profitieren werden, ist ein Eckpfeiler der personalisierten Medizin“, sagt Coautor Rae Yeung.
Neben der recht kleinen Validierungskohorte hat Engs Ansatz eine Schwäche. Er arbeitet mit therapienaiven Patienten, was die Anwendbarkeit seines KI-Tools stark einschränkt.
Ändern sich unsere Versorgungsstrukturen?
Beide Pilotstudien zeigen trotz ihrer Einschränkungen, welche Potenziale die künstliche Intelligenz derzeit hat. In Deutschland wäre ihr Einsatz momentan kaum denkbar, da es neben digitalen Patientenakten immer noch handschriftliche Aufzeichnungen gibt. Und Daten sind oft zu inhomogen – es fehlen konsistente Strukturen.
Nicht zuletzt gibt es keine großen Datensätze, um – wie die Autoren zeigen – maschinelle Lernprozesse anzustoßen. Solche Defizite lassen sich überwinden, jede neue Technologie braucht Zeit.
Früher oder später wird sich auch unser Versorgungsalltag ändern. Dann sind Gesundheitszentren oder Notfallpraxen zu jeder Tages- oder Nachtzeit erreichbar. Vor Ort führen examinierte, nicht akademische Fachkräfte eine Triage durch. Künstliche Intelligenz unterstützt ihren Entscheidungsprozess. Sie behandeln Bagatellerkrankungen selbst und verordnen in bestimmten Fällen auch Medikamente. Nur Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen sehen einen Arzt.
Gleichzeitig gibt es „Walk-in-Clinics“ in Einkaufszentren oder in großen Apotheken. Vor Ort versorgen Pflegekräfte mit Zusatzausbildung Patienten mit leichten Erkrankungen, überprüfen Blutwerte oder führen Impfungen durch. Solche „Gesundheitsläden“ (Terveyskioski) haben sich in Finnland, aber auch in den USA etabliert. Auch bei uns wird die Zeit langsam reif für einen Wandel.
Bildquelle: Clem Onojeghuo, Unsplash