Immer mehr Menschen glauben, von einer Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität betroffen zu sein. Es gibt zwar eine Leitlinie, eine allgemeingültige Definition aber nicht. Ärzten bleibt damit nur die Ausschlussdiagnose. Verunsichert ein so unscharfes Krankheitsbild mehr, als es hilft?
Bei Patienten mit gastrointestinalen Problemen stehen Ärzte nicht selten vor einem Diagnose-Problem. Es kommt immer wieder vor, dass weder eine Zöliakie noch eine Weizenallergie nachgewiesen werden können. Die Patienten beklagen nach dem Verzehr von glutenhaltigen Lebensmitteln aber dennoch typische Beschwerden wie Blähungen, Diarrhoe oder Schmerzen. In einer solchen Situation ist die Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS, „non celiac gluten sensitivity“) sowohl bei Laien als auch bei Ärzten eine populäre Diagnose.
Das Problem: Das Krankheitsbild ist bislang „unscharf definiert“, wie es in der aktuellen Leitlinie dazu heißt. Ob NCGS tatsächlich existiert und was die verantwortlichen Auslöser sind, wird unter Experten noch kontrovers diskutiert.
Aber die Zahl der Patienten, die bei sich per Eigendiagnose eine Glutenunverträglichkeit feststellen und möglicherweise medizinisch unbegründet auf eine glutenfreie Ernährung umstellen, ist hoch. Wie hilfreich ist so ein schwammiges Krankheitsbild für Ärzte und Patienten?
Aufgrund des großen Interesses in der Öffentlichkeit und den Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung, wurden seit 2010 Definitionen des Krankheitsbildes erarbeitet. Eine allgemeingültige Definition der NCGS existiert bis heute nicht. Das wird auch dadurch verdeutlicht, dass alternativ der Begriff NCWS („Weizensensitivität“) gebraucht wird.
Als zentrale Kriterien für die NCGS werden unspezifische gastrointestinale, aber auch extraintestinale Symptome, die im Zusammenhang mit der Aufnahme glutenhaltiger Nahrung auftreten, genannt. Weitere Voraussetzung ist, dass sich die Beschwerden erheblich verbessern, wenn sich Patienten glutenfrei ernähren. Außerdem ist das Vorliegen einer Zöliakie eindeutig auszuschließen und es sollte keine IgE-vermittelte Weizen/Getreideallergie nachgewiesen werden.
Dr. Imke Reese von der DGAKI-Arbeitsgruppe (Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie), warnt in einem Positionspapier zu NCGS vor einer vorschnellen Diagnose.
„Momentan ist nicht bekannt, welcher Pathomechanismus hinter NCGS steckt und dementsprechend schwierig ist es, Diagnoseparameter zu etablieren. Es ist deshalb durchaus möglich, dass Gluten mit Beschwerden in Verbindung gebracht wird, für die es gar nicht verantwortlich ist – Gluten könnte der ‚falsche Schuldige‘ sein.“
Die Prävalenzahlen schwanken wegen der fehlenden Eindeutigkeit der Diagnose zwischen 0,5 und 13 % erheblich. Vor allem die Rate selbsteingeschätzter Glutenunverträglichkeiten liegt in eher höheren Bereichen. Die Häufigkeit nimmt bei gezieltem Nachweis durch placeboverblindete Glutenbelastung hingegen deutlich ab. Wer auf Gluten verzichtet, wenn es medizinisch nicht begründet ist, bei dem überwiegen die potenziellen Nachteilen den erhofften Vorteilen.
Derzeit kann die Diagnose der NCGS nur über eine doppelblinde placebokontrollierte Kreuzstudie gesichert werden. Stephanie Baas von der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V. (DZG) sagt aber: „Ich wüsste von nicht einem Patienten, der jemals davon berichtet hätte, dass ein Test so bei ihm durchgeführt worden wäre. Ich glaube, das ist ein Setting, das realistisch nicht in den diagnostischen Alltag übernommen werden kann. Dieses Vorgehen ist eher Studien vorbehalten.“ Anders als bei der Zöliakie existiert für NCGS kein klares histologisches Korrelat, das zur Diagnose führt.
Speziell für die NCGS wurden 2015 die „Salerno Experts’ Criteria“ formuliert. Eine solche Studie besteht aus mehreren Phasen und beginnt mit einer glutenfreien Diät für mindestens sechs Wochen. Anschließend werden in zwei zeitlich ausreichend voneinander getrennten Testphasen gezielt Placebo oder ca. acht Gramm Gluten pro Tag in Kapseln verabreicht. Über die gesamte Zeit hinweg werden die Symptome wöchentlich von den Betroffenen protokolliert.
In solchen Tests konnte jeweils die Mehrzahl der Teilnehmer die Glutenverabreichung nicht vom Placebo unterscheiden. In einer norwegischen Studie mit zwanzig Patienten, die in insgesamt vier Phasen à vier Tagen glutenfreie Muffins oder identische Muffins mit Gluten gegessen hatten, beschrieben die meisten mehr Beschwerden, während sie die glutenfreie Variante gegessen hatten. Nur vier der zwanzig Patienten konnten die Phasen korrekt identifizieren, in denen sie Gluten zu sich genommen hatten – sie litten dann vermehrt unter Bauchschmerzen.
Eine Studie aus Italien kam zu ähnlichen Ergebnissen: Bei elf von 28 Kindern wurde eine NCGS diagnostiziert, während sie in mehr als 60 Prozent der Fälle ausgeschlossen wurde. Bei den Kindern wurden zu Beginn die Beschwerden bei einer glutenhaltigen Diät ermittelt. Anschließend wurden sie auf eine glutenfreie Ernährung umgestellt. Innerhalb von fünf bis neun Wochen erfolgten zwei Testphasen über je zwei Wochen, in denen eine Belastung mit Gluten oder Placebo (Reisstärke) erfolgte. Nach Einführung der glutenfreien Ernährung waren die Beschwerden bei einem Großteil der Kinder reduziert. Bei 17 der 28 Kinder waren anschließend während der Provokation mit Gluten jedoch keine deutlichen Effekte erkennbar.
Die Rolle der Psyche
Laut einer Metaanalyse von zehn doppelblinden placebokontrollierten Kreuzstudien mit 1.312 Erwachsenen zeigten nur 16 Prozent der Patienten Gluten-spezifische Symptome, während 40 Prozent der Teilnehmer mit einem Nocebo-Effekt, also Beschwerden aufgrund eines erwarteten negativen Effektes, reagierten.
Baas ist der Meinung: „Die Psyche spielt bei der Ernährung eine große Rolle, wir wissen, dass Darm und Psyche zusammenhängen. Manche Leute haben wahrscheinlich das Gefühl, sich mit einer glutenfreien Ernährung etwas Gutes zu tun. Für die Zöliakiepatienten hat dieser Hype zwar bewirkt, dass mehr glutenfreie Lebensmittel auf dem Markt sind, aber sie haben auch oft damit zu kämpfen, dass ihre Krankheit nicht ernst genommen wird.“
Die Tatsache, dass so viele Menschen in den zuvor beschriebenen Studien bei der Gluten-Provokation keine klaren Reaktionen zeigen, könnte ihre Ursache darin haben, dass andere Weizenbestandteile zu den Beschwerden führen. Einige Fachleute bevorzugen für die NCGS deshalb die Bezeichnung Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität. Das klingt einigermaßen absurd und man kann sich nicht vorstellen, dass eine solch schwammige Ausschluss-Diagnose-vielleicht-habe-ich-eine-Sensitivität-Bezeichnung irgendjemanden weiterhilft.
Als Kandidaten werden beispielsweise Gliadine, Lektine, Amylase-Trypsin-Inhibitoren aus Weizen oder die FODMAPs genannt. Das sind fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Alkohole, die schlecht resorbiert werden. Wenn sie durch Darmbakterien fermentiert werden, können kurzkettige Fettsäuren und Gase entstehen. Low-FODMAP Diäten werden schon seit einiger Zeit beworben und könnten sich zu einem weiteren Ernährungstrend entwickeln.
Gesucht: Alternativer Schnelltest
Insgesamt sind die Diagnosemöglichkeiten bei NCGS unbefriedigend, ein objektiver Schnelltest fehlt. Kürzlich wurde ein potentieller neuer Biomarker beschrieben: Di Stefano et al. haben einen ALCAT 5 Test verwendet. Hierbei wird die Antwort von neutrophilen Granulozyten auf fünf Extrakte glutenhaltiger Getreide in vitro bestimmt. Die Studie, mit kleiner Probandenzahl, lieferte keine überzeugenden Ergebnisse.
Was sollen Ärzte ihren Patienten also nun raten, wenn diese möglicherweise an einer NCGS leiden? Baas hält es für überaus wichtig, dass eine glutenfreie oder -arme Ernährung erst nach dem Ausschluss einer Weizenallergie und Zöliakie erfolgt. Dies hat zum einen den Grund, dass ein Zöliakie-Nachweis bei ausreichend langer glutenfreier Diät nicht mehr gelingt. Zum anderen sind Patienten, denen es ohne Gluten besser geht, oft nicht mehr bereit, zu einer normalen Ernährung zurückzukehren: „Erst die Zöliakie vom Tisch bringen, und sich dann in Ruhe einer möglichen NCGS widmen“, sagt Baas.
Bisher noch eine Theorieblase
Die aktuelle Leitlinie, die noch bis Ende April 2019 gültig ist, rät zu einer Ernährung wie bei Zöliakie. Sie weist jedoch darauf hin, dass eine weniger strikte Diät eventuell möglich ist.
Dr. Imke Reese zieht ihr Fazit: „Letztendlich befinden wir uns in einer großen Theorieblase, was nicht bedeutet, dass es dieses Krankheitsbild nicht gibt. Die Frage ist nur, ob es von Vorteil ist, dass dieses Krankheitsbild in den Medien so stark forciert und publik gemacht wird, bevor man medizinisch überhaupt die Chance hat, der Erwartung der Patienten gerecht zu werden.“
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