Die Verschreibungspflicht ist hierzulande heilig. Nur der Arzt darf. Sonst niemand. Und wenn ein Apotheker doch mal ein Rx-Präparat ohne Rezept abgibt, kommt er in Teufels Küche. In anderen Ländern sind die Regeln lockerer. Warum nicht auch bei uns?
Und freitäglich grüßt das Murmeltier: Für Ärzte naht das wohlverdiente Wochenende. Doch kaum ist die Praxistür geschlossen, fällt Patienten ein, dass sie eigentlich noch dringend ihr Antihypertensivum, ihr Insulin oder ihr Levothyroxin brauchen. Wie ärgerlich! Schon geht der Weg ganz ohne Rezept in die Apotheke. Und am HV-Tisch beginnt der Kampf.
Apotheker oder PTA sehen sich massiven Angriffen ausgesetzt. „Ich löse doch schon seit Jahrzehnten meine Rezepte bei Ihnen ein“, heißt es dann. „Schauen Sie doch mal in meine Kundenkarte.“ Um wenigstens etwas Aktionismus zu zeigen, greift der Apotheker dann zum Hörer – nur um dem Kunden zu beweisen, dass alle umliegenden Praxen eben geschlossen haben. Welche Überraschung!
Irgendein schlauer Kopf hat vor Jahren für genau diese Situation einen Trick entwickelt. Es ist doch ganz einfach: Man einzelt ein Blister aus der Verpackung aus, lässt den Kunden alles privat zahlen und bietet ihm Erstattung inklusive Aushändigung der restlichen Pillen an, sobald das Kassenrezept vorliegt. Schön und gut. Nur finden sich weder im Apothekengesetz noch in der Apothekenbetriebsordnung oder in der Arzneimittelverschreibungsordnung solche Kunstgriffe. Rx ist Rx, ein bisschen verschreibungspflichtig gibt es nicht.
Andere Kollegen argumentieren gern mit dem „rechtfertigenden Notstand“, einem Begriff aus dem Strafgesetzbuch, §34. Etwas lapidar gesagt heißt es darin, dass der Zweck, nämlich Leben zu retten, die Mittel heiligt. Nur lässt sich §34 StGB kaum auf deutsche Apotheken und ihre Rx-Abgabe übertragen. Wir leben nicht in unterversorgten Gegenden. Bei uns gibt es den Bereitschaftsdienst, Notfallpraxen oder diensthabende Kliniken. Und wer im HV zusammenbricht, muss von Arzt betreut werden, nicht vom Apotheker.
Für alle Kunden in deutlich besserer Verfassung bleibt nur, sich auf den Weg zu machen, um von diensthabenden Ärzten ein Rezept zu ergattern. Das nervt, nur gehen solche Spielregeln weder auf Ärzte noch auf Apotheker zurück. Vergessliche Nicht-Notfall-Patienten warten dann eben ein paar Stunden, nur um in weniger als zehn Minuten ihre Verordnung zu bekommen. Sie nehmen Zeit in Anspruch, die kranke Menschen benötigen, aber keine vergesslichen Zeitgenossen. Sollten Apotheker nicht großzügiger sein?
Das lässt sich nur mit einem klaren Nein beantworten. Gesetze sind nicht dafür da, um gebrochen zu werden. Vielleicht hat sich der Arzt bewusst gegen eine weitere Pharmakotherapie mit dem Wirkstoff X entscheiden. Vielleicht handelt es sich um einen Fall von Medikamentenabusus. Selbst bei Bronchodilatatoren gönnt man sich gern ein paar Hübe mehr. Denn viel hilft doch viel.
Neben den bekannten wissenschaftlichen Argumenten gibt es aber noch ganz andere Argumente gegen die freizügige Abgabe. Ein unbekannter Kunde im HV kann durchaus vom Konkurrenten drei Straßen weiter kommen – wie in München geschehen. Erhält er das Präparat seiner Begierde, geht es schnurstracks zur Kammer. Und der Konkurrent schmort im eigenen Saft. Beim ersten Mal bleibt es meist bei einer Geldstrafe, aber das Berufsgericht für Heilberufe sieht Wiederholungstäter gar nicht gern. Schließlich handelt es sich um eine Straftat, die zum Verlust der Betriebserlaubnis oder gar der Approbation führen kann.
Dass wir uns hier über das leidige Thema echauffieren, müsste eigentlich nicht sein. Andere Länder haben den gordischen Knoten aus Notfällen und Verschreibungspflicht deutlich eleganter durchtrennt. In Österreich haben Apotheker laut §4 Rezeptpflichtgesetz die Möglichkeit, in Ausnahmefällen Rx ohne Rezept abzugeben. Auch das Schweizer Heilmittelgesetz, §24, sieht solche Sonderwege vor. Damit nicht genug: Die Schweiz und Österreich kennen Rezepte, die mehrfach beliefert werden dürfen.
Australien, Großbritannien, Irland, Neuseeland bzw. die USA gehen noch einen Schritt weiter. Sie ermöglichen es sogar „non-medical prescribers“, Rezepte auszustellen. Dazu gehören nicht nur Apotheker, sondern auch Pflegekräfte oder Diätassistenten. Das hören Ärzte sicher nicht allzu gerne, doch sind Bedenken angebracht? Cochrane-Forscher sehen bei Patienten mit Diabetes („hohe Evidenz“ der eingeschlossenen Studien), Hypertonie bzw. Hypercholesterinämie („mittlere Evidenz“) keine signifikanten Unterschiede.
Kommentar von Michael van den Heuvel.Bildquelle: Annie Spratt, unsplash