Ich besuche Frau Brügger, um mit ihr über die bevorstehende Vollnarkose zu sprechen. Es geht um eine Schulteroperation. Im Gespräch merke ich: Irgendetwas liegt ihr auf der Seele. Aber sie druckst rum. Jemand war zornig, erfahre ich.
Frau Brügger, 84 Jahre alt, ist gestürzt. Es ist nicht ihr erster Sturz, aber bisher ihr schwerster, denn Frau Brügger hat erst vor ein paar Monaten eine Schulterprothese bekommen. Der Oberarmknochen ist nun just um den Schaft dieser Prothese gebrochen, weil sie sich just mit diesem Arm versucht hat, aufzufangen. Nicht, dass es besser gewesen wäre, hätte sie sich auf dem anderen Arm abgestützt, denn auch dort hat sie eine Prothese. Herr Dr. Saillinger, unser Schulterspezialist, hat ihr beide implantiert und wird nun auch den Bruch flicken.
Nach der Operation rausgerutscht
Ich besuche Frau Brügger, um mit ihr über die bevorstehende Vollnarkose zu sprechen. Ein wichtiger Punkt für den postoperativen Verlauf ist dabei der Schmerzkatheter, den sie bekommen soll: Ein sehr feiner Schlauch, der ihr seitlich am Hals angebracht werden soll, um die Nerven zu lähmen und ihr so die Schmerzen ein Stück weit zu nehmen. Frau Brügger sollte diese Prozedur schon kennen, denn in ihrer Akte steht, dass sie bei beiden Schulteroperationen einen solchen Katheter erhalten hat.
„Ging das denn die letzten beiden Male gut mit dem Katheter?“, frage ich sie.
„Ja… also…“, sie zögert. „Beim ersten Mal schon.“
„Hm, und beim zweiten Mal nicht?“
Sie zögert wieder. „Letztes Mal ist er nach der Operation rausgerutscht und man musste einen neuen legen, aber danach war es eigenlich gut.“
Das ist ein häufiges Problem bei dieser Art von Kathetern. Sie liegen sehr oberflächlich unter der Haut, oft weniger als vier oder fünf Zentimeter tief. Das Gewebe am Hals ist sehr flexibel und der Katheter hält nicht gut darin. Hinzu kommt, dass der Kopf und damit auch der Katheter, die ganze Zeit in Bewegung ist. Dabei wird Zug auf den kleinen Plastikschlauch ausgeübt und er kann verrutschen. Wir ergreifen jeweils verschiedene Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken, aber leider hilft das manchmal nicht.
„Oh, das ist schade", sage ich. „Aber nachher hat er gut gewirkt?“
„Ja, aber… da ist etwas vorgefallen, und das… also ich weiß jetzt nicht, ob ich das sagen kann.“
„Sagen Sie es mir doch“, bitte ich sie. „Es kommt mir so vor, als würde Sie das belasten, da ist es doch besser, wenn man darüber spricht, nicht?“
Sie überlegt eine Weile, ringt sich dann aber doch zu einer Antwort durch.
„Na gut. Also, die letzten beiden Male hat mich ja Herr Doktor Saillinger operiert, der Orthopäde. Das ist wirklich ein Guter. So nett. Und er hat das immer so gut gemacht. Jedenfalls, ich war im Aufwachraum nach der Operation. Der Herr Doktor Saillinger kam zu mir ans Bett und sagte, alles sei gut verlaufen. Er fragte mich, wie es mir gehe, und ich sagte ihm, ich hätte Schmerzen. Daraufhin hat er sich sofort darum gekümmert! Er hat den Verband angeschaut, und dann den Katheter, und dann hat er gesagt…“
Sie bricht ab. Ich kann sehen, wie sie all ihren Mut zusammennimmt. „Der Herr Doktor war ganz außer sich, er hat laut gebrüllt: ‚Der Schlauch ist ja draussen! [Die Anästhesistin ist] so eine blöde Kuh!‘ “
Ach ja, daran erinnere ich mich. Meine Oberärztin hat den Katheter damals gelegt und ich hab mitbekommen, wie er sie am Telefon lautstark und massiv unter der Gürtellinie zur Schnecke gemacht hat. Solche Ausraster kommen bei ihm häufig vor, gerade gegenüber der Anästhesie und gelegentlich auch seinen chirurgischen Assistenzärzten gegenüber.
Zu seinen Patienten ist er allerdings wohl immer freundlich. Sie lieben ihn. Das ist immerhin etwas.
Ein guter Chirurg
Bevor ich mir eine Antwort zurechtlegen kann, fährt Frau Brügger fort: „Das hat mich schon sehr entsetzt, wissen Sie? Dass man so über andere redet. Er ist aber am nächsten Morgen zu mir gekommen und hat sich dafür entschuldigt. Er hat gesagt, manchmal geht das Temperament mit ihm durch und es tue ihm sehr leid. Ist das nicht nett?“ Nun strahlt sie wieder.
Das spöttische Schnauben kann ich mir leider nicht verkneifen – bei der Patientin entschuldigt er sich dafür? Bei meiner Oberärztin hat er das sicher nicht getan. Zum Glück scheint die Patientin meine Reaktion nicht zu registrieren.
Was sag ich ihr denn nun? Sowas kommt häufig vor, er ist nun mal ein Arsch. Aber wenigstens ist er ein guter Chirurg?
Für mich ist klar, dass das nicht hilfreich ist. Frau Brügger vergöttert Saillinger und wird morgen von ihm operiert. Für ihre Genesung, die lange dauern wird mit diesem komplizierten Bruch, wird sie all ihre positiven Gedanken brauchen und dazu gehört das Vertrauen in ihren Chirurgen.
Dazu kommt: Saillinger ist leitender Arzt. Damit ist er in der Nahrungskette sehr, sehr weit über mir. Und zu guter Letzt wäre mein Verhalten dann genauso unprofessionell, wie das von Saillinger, oder?
Das ist keine Entschuldigung, aber ...
„Wissen Sie, Herr Saillinger ist immer sehr besorgt um seine Patienten. Manchmal, wenn etwas nicht so läuft, wie er es gerne hätte, frustriert ihn das. Gerade, wenn er es nicht selbst unter Kontrolle hat. Und dann passiert sowas.“ Das ist nicht mal gelogen. Wahrscheinlich ist das tatsächlich der Grund, warum er sich so asozial verhält. Keine Entschuldigung, aber immerhin eine Erklärung.
Frau Brügger nickt und lächelt. Auch mit dem Katheter ist sie einverstanden, er hatte ihr ja bisher auch schon geholfen.
Zum Glück verläuft diesmal alles problemlos. Frau Brügger erholt sich gut, hat postoperativ kaum Schmerzen, sodass der Katheter vier Tage nach der Operation gezogen werden kann. Kurz darauf kann sie in die Reha gehen.
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