Ohne Tierversuche gibt es für neue Medikamente keine Zulassung der Behörden EMA oder FDA. Solche Experimente sind nicht mehr zeitgemäß, sagen Kritiker. Doch was ist die Alternative? DocCheck sprach mit zwei Expertinnen.
„In Deutschland stagniert die Zahl an Tierversuchen seit einigen Jahren auf hohem Niveau“, sagte Sabrina Engel. Die Biotechnologin arbeitet bei der Tierrechtsorganisation PETA. Offiziellen Statistiken zufolge waren es zuletzt rund 1,3 Millionen Mäuse, 255.000 Ratten, 93.000 Kaninchen, 37.000 Vögel und 239.000 Fische, die in Forschung und Lehre gestorben sind. „Und das, obwohl die Bundesregierung seit Jahren verspricht, hier gegenzusteuern“, so Engel. Sie kritisiert, Ergebnisse aus Tierexperimenten seinen nur bedingt auf Menschen übertragbar. Das liege vor allem an der Artenschranke:
Warum gibt es trotzdem Tierversuche? Das erklärt Engel so: „Ein Problem ist, dass derzeit zu wenige humanrelevante Modelle anerkannt sind.“ Doch die Forschung schläft nicht. „Human-on-a-chip-Modelle haben meiner Meinung nach ein großes Potenzial, um Tierversuche mittelfristig zu ersetzen“, sagt Engel. Darunter versteht man dreidimensionale Aggregate menschlicher Zellen in mikrofluidischen Systemen, also Mini-Organe in Kammersystemen mit Kapillaren. Diese neue Form der Zellkultur erlaubt es Forschern auch, einzelne Vitalparameter oder Wirkstoffkonzentrationen zu verändern. In Tieren wäre das nicht einfach möglich. Schon jetzt entwickelt die Firma TissUse aus Berlin Human-on-a-Chip-Technologieplattformen für präklinische Tests. „Weltweit arbeiten viele Gruppen an solchen Systemen, erhielten aber nicht ausreichende Fördermittel“, so Engel weiter. Sie hofft mittelfristig auf eine Alternative zu präklinischen Tierversuchen.
Es geht aber nicht nur um die Forschung selbst. Regulatorische Behörden wie die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) oder die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) fordern bei der Zulassung neuer Medikamente Daten aus Tierexperimenten. Doch der Widerstand wächst: Vanda Pharmaceuticals Inc., ein forschender Hersteller aus den USA, hat es zum Beispiel abgelehnt, präklinische Tests an Hunden durchzuführen. Eigentlich sollte den Testtieren eine stark erhöhte Dosis eines neuen Pharmakons verabreicht werden. Diese würde der bis zu 300-fachen menschlichen Äquivalentdosis entsprechen. Laut Vanda Pharmaceuticals wäre das „wissenschaftlich sinnlos“. Weitere Klärungen sind nur auf gerichtlicher Ebene möglich. Gleichzeitig fordert Vanda andere Hersteller in einem offenen Brief auf, die FDA unter Druck zu setzen, damit sie ihre Richtlinien überarbeitet.
Engels Meinung teilen viele Wissenschaftler nicht. Wir sprachen mit Prof. Brigitte Vollmar von der Universität Rostock. Sie forscht im Bereich der experimentellen Chirurgie, leitet die Zentrale Versuchstierhaltung der Universitätsmedizin Rostock und ist Vorsitzende der DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschung. „Das Tier repräsentiert für Wissenschaftler einen vollständigen, intakten Organismus“, sagt Vollmar. „Denn jeder Zelltypus oder jede Interaktion beeinflusst möglicherweise unsere Fragestellungen.“ Diese Komplexität lasse sich mit Alternativmethoden derzeit nicht in vollem Umfang abbilden. „Deshalb ist die Notwendigkeit und auch die Sinnhaftigkeit tierexperimenteller Forschung immer noch gegeben“, so Vollmar.
„Alternativmethoden wie in vitro Zellkulturen oder Organsysteme auf Biochips haben unbestritten ein großes Potenzial, weisen aber derzeit noch ihre Schwächen und Limitationen auf“, erklärt die Expertin. Zellen wachsen auf künstlichen Materialien, und Interaktionen entsprechen nur bedingt dem natürlichen Vorbild. „Außerdem ist unser Problem, dass es keine übergreifenden Standards für die Systeme gibt“, so Vollmar. „Das macht Ergebnisse auf Chips aus unterschiedlichen Labors nur eingeschränkt miteinander vergleichbar. Solche Schwächen sind langfristig zu lösen. Momentan stecken Alternativmethoden aber noch in den Kinderschuhen“, sagt die Expertin.
Trotzdem lassen sich neben Chips auch in silico Verfahren oder Zellkulturen bei bestimmten Experimenten einsetzen. Wissenschaftler arbeiten je nach Fragestellung mit der bestmöglichen Technik. Ihre Maxime bei Tierversuchen ist das „3R-Prinzip“: Replacement (Ersatz), Reduction (Verringerung) und Refinement (Verbesserung).
Dass sich – wie oft zu hören ist – Ergebnisse aus Tierversuchen der Pharmaforschung kaum auf Menschen übertragen lassen, dementiert die Expertin. „Es gibt nicht nur in deutlich größerem Umfang Gegenbeispiele. Auch vermeintlich gescheiterte Experimente generieren neues Wissen.“ Forschungsergebnisse, die heute entstünden, könne man aktuell oft nicht in ihrer Relevanz und Tragweite bewerten. Nahezu alle Nobelpreise der Medizin und Physiologie seien auf Arbeiten mit Versuchstieren zurückzuführen. Die Relevanz habe man oft erst Jahre später erkannt.
Aber selbst bei präklinischen Studien hätten sich schon andere Indikationen gezeigt als ursprünglich geplant. Vollmar merkt aber auch an, dass selbst klinische Studien mit Probanden nicht ohne Schwächen sind. Schon beim Studiendesign schließt man bestimmte Gruppen ein oder aus, um möglichst homogene Kohorten zu generieren. Alter, Geschlecht oder Grunderkrankungen sind Beispiele für solche Kriterien. Aber selbst auf den ersten Blick vergleichbare Menschen unterscheiden sich im Genom. Deshalb gewinnt die personalisierte Therapie mehr und mehr an Bedeutung. „Wie können wir dann fordern, Tierexperimente 1:1 auf den Menschen zu übertragen?“, gibt Vollmar zu bedenken.
Die Debatte hat auch Auswirkungen auf die chirurgische Forschung. Geht es zum Beispiel darum, operative Techniken zu entwickeln oder zu optimieren, machen Simulationen nur am Anfang Sinn. „Die Machbarkeit, Anwendbarkeit und vor allem die Frage möglicher Komplikationen prüfen wir zuletzt im Großtierexperiment“, sagt Vollmar. Ob eine Methode besser als der Standard ist, lässt sich eben nur im komplexen Organismus beurteilen.
Vollmar geht es beim Thema Tierversuche auch um die Ärzte von morgen. „Wir haben in Kliniken immer mehr Druck durch die Arbeitsverdichtung und durch die Gewinnorientierung, dabei bleibt die Weiterbildung oft auf der Strecke“, so die Expertin. Wie sollen Ärzte chirurgische Techniken lernen? Modelle simulieren einen Organismus aus Fleisch und Blut, mit Organen, Nerven und Sehnen nur unzureichend. „Deshalb bieten wir seit vielen Jahren hands-on Trainingskurse an Großtieren an.“
Schweine bilden die menschliche Anatomie in etwa ab. Sie eignen sich, um chirurgische Techniken zu erlernen. „Wir alle erwarten eine suffiziente medizinische Versorgung, aber woher kommt das alles?“, fragt die Expertin. Ihr Fazit: „Ich halte es schon fast für unmoralisch, zu behaupten, man könne auf Tierversuche verzichten. Denn die gesamte Bevölkerung legt Wert auf eine adäquate medizinische Behandlung und auf medizinischen Fortschritt.“
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