In Deutschland sind drei Millionen Menschen von Tinnitus betroffen. Einheitliche Behandlungsstandards und nachweislich wirksame Medikamente gibt es nicht. Ist Besserung in Sicht? Erste Einblicke in die noch unveröffentlichte Leitlinie.
Martin Luther, Ludwig van Beethoven, Bedrich Smetana, Robert Schumann und Vincent van Gogh – sie alle waren Tinnituspatienten. Sie sind ein Beleg dafür, dass es sich um eine ältere Erkrankung handelt. Und eine häufige: Nach Angaben der Deutschen Tinnitus-Liga sind fast eine Million Menschen in Deutschland so schwer betroffen, dass ihre Leistungsfähigkeit und Lebensfreude empfindlich beeinträchtigt sind.
Es existieren zahlreiche Theorien, wie die nervenden Ohrgeräusche entstehen. Verantwortlich ist wahrscheinlich eine neuronale Reorganisation im Bereich der Hörrinde im Cortex. Die Zerstörung der Haarzellen führt zu einer Deprivation von Nervenzellen in der Hörrinde, die in einer Übererregbarkeit der Neuronen resultiert. Die spontan entstehenden nervalen Impulse werden als Geräusch interpretiert. Auch Störungen der Homöostase und die Minderaktivität GABAerger Neurone sind mögliche Ursachen eines Tinnitus. Hoffnung machte einige Zeit der NMDA-Rezeptorantagonist Neramexane. Die Studienergebnisse reichten jedoch nicht für eine Zulassung, die Forschungen wurden inzwischen eingestellt.
Die aktuelle deutsche Tinnitusleitlinie liest sich wie das Who is Who der Therapieversager. Für kaum eine Therapie besteht eine hinreichende Evidenz. Eines der wichtigsten Ziele der neuen multidisziplinären europäischen Leitlinie ist deswegen: Einheitliche Standards für die Behandlung des chronischen Tinnitus etablieren. Die Leitlinie wird von einem internationalen Expertenteam erarbeitet und steht kurz vor der Veröffentlichung. Wichtige Empfehlungen der Leitlinie sind aber schon jetzt bekannt. Es werden folgende Schweregrade unterschieden:
Bei Tinnitus Schweregrad I und II wird eine Psychoedukation empfohlen. Dem darin eingebetteten Counseling wird eine gute Evidenzlage attestiert. Im engeren Sinne versteht man darunter die ärztliche Beratung des Tinnituspatienten. Das Counseling im Rahmen des sogenannten Tinnitus-Retrainings hat einen Umfang von einer bis drei Stunden. Dies kann jedoch von Patient zu Patient ganz unterschiedlich sein. Vereinzelt sind auch mehrere Counseling-Stunden sinnvoll und hilfreich. Der beratende Arzt und der Tinnituspatient werden beim Counseling als Team betrachtet, das sich auf das Therapieziel der Tinnitus-Retraining-Therapie – der Gewöhnung an das Ohrgeräusch – vorbereitet. Klärende Erläuterungen können in jeder HNO-Praxis durchgeführt werden und sind bei geringem Leidensdruck oft schon ausreichend.
Zu diesem Zweck kann beispielsweise der Tinnitusfragebogen zum Einsatz kommen. Er wird vom Patienten ausgefüllt, was etwa fünf bis zehn Minuten dauert. Der Bogen besteht aus 52 Fragen, die Auswertung kann einen Punktewert zwischen 0 und 84 ergeben. Anhand dieses Wertes lässt sich der Schweregrad des Tinnitus bestimmen. Der Patient kann Angaben zu Problemen, die den Alltag betreffen, machen. So können zum Beispiel Schlafstörungen, Zukunftsangst und psychosomatische Belastung festgestellt und eingeordnet werden.
Ein einwöchiges, intensives Retraining-Programm hilft vor allem Tinnitus-Patienten, die stark unter den Ohrgeräuschen leiden. Dies zeigte bereits eine ältere Studie der Berliner Charité. Um die Wirksamkeit der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) zu analysieren, wurden 237 Patienten mit einem mindestens drei Monate anhaltenden Tinnitus in die Studie eingeschlossen. Viele der Probanden litten über zwei Jahre an den Ohrgeräuschen, 151 davon beidseitig.
Die TRT wurde über einen Zeitraum von sieben Tagen durchgeführt. Sie bestand aus verschiedenen Elementen wie dem Erlernen einer Entspannungstechnik, einer akustischen Therapie, Physiotherapie und Schulung. Aber auch das Lenken der selektiven Aufmerksamkeit sowie eine Veränderung der Einschätzung und mentalen Haltung gegenüber dem Tinnitus gehören dazu.
Mithilfe verschiedener standardisierter Testverfahren und Fragebögen wurden Stressfaktoren und die individuelle Tinnitus-Belastung vor der Therapie, direkt danach sowie nach drei, sechs und zwölf Monaten ermittelt. In der Kontrollgruppe änderte sich der Schweregrad des Tinnitus über drei Monate nicht. In der TRT-Gruppe nahmen die Beeinträchtigungen deutlich ab. Im Langzeitverlauf zeigte sich auch bis zu zwölf Monate später ein anhaltender, günstiger Effekt der TRT. Vor allem bei Tinnitus-Patienten mit starker Stressbelastung hielt die Besserung über ein Jahr an. Zeigten die Testpersonen zu Studienbeginn eine deutlich depressive Symptomatik, so konnte auch diese mit dem Retraining gebessert werden.
Das Resümee der Studie, die auch Eingang in die aktuelle Leitlinie gefunden hat: Mit einer intensiven siebentägigen TRT lassen sich langfristig allgemeine und krankheitsspezifische Belastungen eines chronischen Tinnitus wirksam vermindern. Patienten, die stark unter dem Tinnitus litten, profitierten am meisten.
Der höchste Evidenzgrad in der Behandlung des Tinnitus liegt derzeit für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) vor. Die KVT führt zu einer signifikanten Verbesserung von Lebensqualität, Tinnitusbelastung und Depressionsscores. Die Lautheit des Tinnitus wird dadurch jedoch nicht beeinflusst. Resümierend empfiehlt die American Academy of Otolaryngology-Head and Neck Surgery folgende Schritte:
Mit Hilfe von CDs, Rauschgeneratoren oder Apps kann das individuelle Tinnitusgeräusch theoretisch überlagert werden. Die Leitlinie spricht sich aber gegen diese Methode aus (...). Dr. Mouna Attarha von der University of California (UCLA) und ihre Kollegen liefern dazu pathophysiologische Argumente. Mit Rauschgeneratoren, die alle Frequenzen erzeugen, werde eher Schaden angerichtet, als dass sie die Symptome linderten.
Eine Langzeitrauschtherapie kann sogar zu den gleichen anatomischen und physiologischen Änderungen führen wie ein Tinnitus. Außerdem löst die Therapie eine Hyperaktivität in der zentralen Hörbahn aus. Dies führt wiederum zu einer Reihe von Hörwahrnehmungsstörungen. Das betreffe vor allem die zeitliche Verarbeitung der gehörten Töne, die für das Sprachverständnis und die Erkennung spezifischer Signale innerhalb eines Rauschens bedeutsam ist.
Auf dem Markt werden mehrere Smartphone-Apps angeboten, teilweise mit einer Gebühr von 150 € pro Jahr. Prof. Dr. Gerhard Hesse, Chefarzt der Tinnitus-Klinik am Krankenhaus Bad Arolsen, befürwortet Apps – mit Einschränkungen. Bislang sei der wissenschaftliche Nutzen unklar. Und: „Ein generelles Problem bezüglich der Anwendung von Smartphone-Applikationen liegt in ihrer tatsächlichen Sicherheit in Bezug auf mögliche Nebenwirkungen wie auch bezüglich des persönlichen Datenschutzes. Dennoch können Internetangebote und Apps eine sinnvolle Ergänzung multimodaler Therapieformen bilden", so der Mediziner.
Die Leitlinie fällt ein klares Urteil über den in der empirischen Therapie weit verbreiteten Pflanzenextrakt: „Eine Evidenz einer Wirksamkeit ergab sich nicht. Vielmehr bestehen, wenn auch milde, Nebenwirkungen wie Schwindel, Magenbeschwerden oder allergische Reaktionen, manchmal auch eine erhöhte Blutungsneigung.“ Als Grundlage dieser Bewertung wird unter anderem eine Studie von Roland und Nergård erwähnt.
Auch für Steroide, Glutamat-Agonisten, Antidepressiva, Zink, Nahrungsergänzungsmittel und Antioxidantien werden keine Empfehlungen ausgesprochen. „Eine spezifische Arzneimitteltherapie mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Behandlung des chronischen Tinnitus steht nicht zur Verfügung. Hingegen können therapierbare Komorbiditäten (z.B. eine Depression) spezifisch mit Arzneimitteln behandelt werden.“
Zur Wirksamkeit des Ginkgo-Extrakts liegt eine Metaanalyse von Spiegel et al. vor. Sie untersuchte die Wirkung einer Tagesdosis von 240 mg Ginkgo biloba-Extrakt (EGb 761®) auf Tinnitus und Schwindel bei Patienten mit Demenz. Die dokumentierte mittlere Differenz entsprach einer 27–40 Prozent stärkeren Reduktion der Tinnitusschwere unter Ginkgo-Extrakt im Vergleich zu Placebo. Für Schwindel lag die Verringerung der Symptomschwere unter Ginkgo-Extrakt um 18–31 Prozent höher als unter Placebo.
Aber: Die Studie weist einige limitierende Aspekte auf. Auftreten und Schwere der Symptome wurden durch die Patienten selbst angegeben. Das könnte eine größere Streuung der Ergebnisse bewirkt haben. Es wurden keine Daten zu körperlichen Funktionseinschränkungen, die in Verbindung mit Tinnitus und Schwindel stehen könnten, berücksichtigt. Außerdem bestehen Interessenkonflikte, da zwei der Autoren bei der Herstellerfirma angestellt sind und andere Vortragshonorare erhielte. Erstautor Rainer Spiegel gibt keine Conflicts of Interest an.
Neben Ginkgo spielen noch weitere Phytopharmaka eine Rolle in der unterstützenden Therapie des Tinnitus, unter anderem Zubereitungen mit Lavendelöl. Eine Studie von Zwanzger und Wacker untersuchte die Wirkung von einem Lavendelölspezialextrakt auf Tinnitus bei depressiven Patienten. Angststörungen und Depressionen gehören zu den häufigsten psychosomatischen Begleiterkrankungen der Ohrgeräusche. In der Studie kam es zu einer deutlichen Verringerung von Muskelspannung und Tinnitus bei innerer Unruhe und Angstgefühlen. Solche körperlichen Symptome können sowohl im Vorfeld als auch als Folge des Tinnitus auftreten. Auch in dieser Studie liegen allerdings Interessenkonflikte vor: Einer der Autoren ist Mitarbeiter der Herstellerfirma.
Der Deutsche Aphoristiker Peter Rudi bringt das Leiden der Betroffenen auf den Punkt: „Die Hölle? Sie spricht Tinnitus.“
Artikel von Matthias Bastigkeit
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