Gesetzliche Krankenversicherungen stöhnen unter hohen Arzneimittelpreisen. Sie fordern, beim AMNOG deutlich nachzubessern. Aus Furcht vor Regressen landet nicht jede Innovation beim Patienten. Andererseits werden zu oft Präparate ohne Mehrwert verschrieben.
Schon in 2014 hatten gesetzliche Krankenkassen 33 Milliarden Euro für Medikamente ausgegeben: ein Rekordhoch. In 2015 stieg der Wert auf zirka 35 Milliarden Euro. Als Kostentreiber entpuppten sich vor allem neue Arzneimittel zur Therapie von Hepatitis C und Kombinationstherapien gegen Krebserkrankungen. Gesundheitsökonomen wurden bei der Suche nach Ursachen schnell fündig: Es liegt an Schwächen des AMNOG. Waren ursprünglich Einsparungen von zwei Milliarden Euro jährlich angedacht, liegt der Wert derzeit bei lediglich 350 Millionen Euro. Das hat mehrere Gründe.
Schon lange wünschen sich Apotheker, über frühe Nutzenbewertungen die Spreu vom Weizen zu trennen. „Derzeit erhalten einige Patienten neue Therapien nicht schnell genug, andere bekommen teure Präparate, die keinen Zusatznutzen haben“, sagt Tim Steimle, Leiter Fachbereich Arzneimittel der Techniker Krankenkasse (TK). Er fordert, Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) stärker in Leitlinien zu berücksichtigen. Dies würde „Ärzte bei der Therapiewahl unterstützen und gleichzeitig dem Einfluss der Pharmaindustrie auf die Leitlinien entgegenwirken“. Momentan sieht Steimle einen Konflikt zwischen der frühen Nutzenbewertung und Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften.
Er greift bei Präparaten, deren Zusatznutzen noch nicht belegt ist, sogar eine Forderung der pharmazeutischen Industrie auf. Bis zum Vorliegen entsprechender Beweise sollten Preise zumindest in Teilen geheim bleiben. Experten wollen unnötige Marktrücknahmen mithilfe geheimer Rabatte vermeiden, und zwar nicht nur im heimischen Markt. Deutschland gilt auch für andere Regionen als Richtschnur. Ziehen Hersteller Pharmaka zurück, müssen viele Patienten neu eingestellt werden. Der nächste Kritikpunkt: „Wir sehen keinen Sinn darin, dass die Pharmaunternehmen in den ersten zwölf Monaten den Preis für ein neues Medikament selbst festlegen dürfen und die Kassen diesen bezahlen müssen - unabhängig davon, ob es später einen Zusatznutzen nachweisen kann oder nicht“, erklärt Tim Steimle mit Verweis auf hohe Umsatzzahlen.
Im kürzlich veröffentlichten AMNOG-Report 2016 kommt die DAK-Gesundheit zu ähnlich vernichtenden Einschätzungen. Den Autoren zufolge hat nahezu jedes zweite neue Arzneimittel keinen bescheinigten Zusatznutzen. Bei 60 von insgesamt 134 durchgeführten Verfahren ging der Daumen nach unten. Je nach Indikation gab es deutliche Unterschiede. Pharmaka zur Behandlung von Krankheiten des Nervensystems und des Stoffwechsels schnitten vergleichsweise schlecht ab. Hier zeigten nur drei von neun beziehungsweise 16 von 29 Wirkstoffen einen Mehrwert. Die Indikationen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (sieben von acht Wirkstoffe mit Mehrwert), Infektionen (zwölf von 14) oder maligne Erkrankungen (36 von 40) schnitten deutlich besser ab.. Mediziner zücken unabhängig davon ihren Rezeptblock. Ein Jahr nach Veröffentlichung der Nutzenbewertung steigen die Verordnungszahlen von Medikamenten ohne beziehungsweise mit Zusatznutzen ähnlich stark an. Der AMNOG-Report nennt hier 14,7 versus 14,2 Prozent. In diesem Zusammenhang überrascht Dimethylfumarat zur Therapie der multiplen Sklerose. G-BA-Experten fanden keinen Zusatznutzen. Das Votum führte aber nicht zu Konsequenzen. Bereits ein halbes Jahr nach Zulassung gab die DAK-Gesundheit pro Monat 3,5 Millionen Euro für den Wirkstoff aus. Laut Professor Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen, führt selbst ein Zusatznutzen im Sinne des AMNOG-Verfahrens nicht immer zu Verbesserungen im Alltag. „Denn bei der Prüfung werden derzeit für die Versorgung relevante Faktoren wie zum Beispiel die Darreichungsform nicht gewertet. Diese sind aber für die verordnenden Ärzte und ihre Patienten mitunter entscheidend, beispielsweise ob Injektionen notwendig sind oder ob ein Wirkstoff per Tablette eingenommen wird.“ Mitunter sind auch Wirkstoffe ohne Zusatznutzen therapeutisch sinnvoll.
Differenzierte Einschätzungen setzen jedoch viel Wissen voraus. Ein Blick auf Realitäten vor Ort zeigt, dass hier gewaltiger Nachholbedarf besteht. Gesundheitsökonomen befragten rund 200 niedergelassene Ärzte. Von ihnen informierte sich knapp die Hälfte regelmäßig über Nutzenbewertungen. Offizielle Dokumente des G-BA und des IQWIG werteten lediglich zwölf Prozent aus. „Sinnvoll wäre es, die wichtigsten Informationen in gängige Praxisverwaltungssysteme zu integrieren, um sie auf einen Blick verfügbar zu machen“, schlägt Professor Dr. Kai Daniel Grandt vor. Er ist Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Wissen allein wird aber kaum ausreichen. Jeder zweite Befragte gab an, aus Furcht vor Regressen innovative Präparate nicht zu verordnen. Langfristige Kosten-Nutzen-Analysen und bessere Informationskanäle wären Wege aus dem Dilemma.