Kratom ist nicht aufzuhalten, wie eine aktuelle Studie aus den USA verdeutlicht: Die Zahl der gemeldeten Fälle im Poison Control Center ist enorm gestiegen. Riefen im Jahr 2011 noch 13 Menschen in der Giftzentrale an, so stieg die Zahl im Jahr 2017 auf 682 Telefonanrufe.
In der kürzlich veröffentlichten Studie griffen Sara Post et al. auf Daten des US Poison Control Center zurück. Ihm zufolge stieg die Zahl der Telefonanrufe betreffend Kratom von 13 Anrufen im Jahr 2011 auf beeindruckende 682 Anrufe im Jahr 2017, oft ging es um schwerwiegende unerwartete Nebenwirkungen.
Es handelt sich bei Kratom um die Pflanze Mitragyna speciosa aus Südostasien, die die Wirkstoffe Mitragynin, Mitraphyllin und 7-Hydroxymitragynin enthält. Sie wird den Opioiden zugeordnet, denn ihre Wirkweise ist psychoaktiv und analgetisch mit Bindung an die µ-Opioidrezeptoren. Vor allem was das Selbstmanagement bei Opioid-Entzug betrifft, greifen immer mehr Menschen auf die Droge zurück. In der Regel werden die getrockneten Blätter zerkleinert und als Kapseln eingenommen oder in Form von Tee getrunken, um Schmerzen zu behandeln oder den Entzug von Opioiden zu erleichtern. In den USA gibt es derzeit zwischen drei und fünf Millionen Kratomkonsumenten, schätzt die American Kratom Association.
Das Forscherteam analysierte alle erfassten Fälle, in denen Menschen der Droge ausgesetzt waren. Von 2011 bis 2017 wurden dem Poison Control Center (PCC) 1.807 Kratom-Fälle gemeldet. Der Trend ist mehr als deutlich: 65 Prozent der Fälle wurden im Zeitraum 2016 bis 2017 gemeldet. Meistens wurde Kratom von Menschen im Alter über 20 Jahre genommen, aber auch 137 Jugendliche und 48 Kinder unter 12 Jahren wurden registriert. Zudem wiesen sieben Neugeborene Entzugserscheinungen in Form von Agitiertheit, Irritabilität, Diarrhö, Hyperventilation oder Tachypnoe auf. Die Wissenschaftler legen nahe, dass Kratom während der Schwangerschaft durch die Plazenta zum Ungeborenen gelangt und später auch durch die Muttermilch abgegeben wird.
In der Studie wird betont, die gesundheitlichen Risiken, die durch Kratomkonsum entstehen, seien unterschätzt, viele Menschen würden die Droge fälschlicherweise als sicher einstufen. Bei einem großen Teil der Einnahmen entstanden schwerwiegende medizinische Folgen, in der Studie als „serious medical outcomes“ (SMO) bezeichnet. In diesen Bereich fallen laut Definition der American Association of Poison Control Centers (AAPCC) Todesfälle, aber auch lebensbedrohliche Nebenwirkungen oder bleibende Behinderungen, Entstellungen sowie „moderate“ Folgen, die einer Behandlung bedürfen. Dem gegenüber stellten die Wissenschaftler „minor medical outcomes“, also jene Folgeerscheinungen, die nicht besorgniserregend waren und in der Regel schnell von selbst verschwanden.
Von allen registrierten Fällen waren 73,6 Prozent Erwachsene im Alter von 20-39 Jahren. Von ihnen nahmen 64,7 Prozent ausschließlich Kratom ohne weitere andere Substanzen ein. Bei Personen, die mehrere Drogen eingenommen hatten und bei denen Kratom im Vergleich am höchsten dosiert war, sprechen die Studienautoren von „first-ranked kratom exposures“. Grund für die Einnahme war in 59,9 Prozent der Fälle beabsichtigter Drogenmissbrauch, bei 9,3 Prozent sogar mutmaßlicher Suizid. Insgesamt 31,8 Prozent – bzw. unter den 1.391 first-ranked Kratom-Fällen 45,7 Prozent – der Personen mussten in einer gesundheitlichen Einrichtung behandelt werden. Bei 32,4 Prozent war ein Aufenthalt notwendig, 54 Prozent dieser Menschen fielen sogar in die Kategorie SMO.
Am gefährlichsten ist die parallele Einnahme mehrerer Substanzen, sie war im Vergleich mit einer ausschließlichen Einnahme von Kratom mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für klinische Aufenthalte (OR: 2.80; 95% CI: 2.21–3.55) und SMO (OR: 2.25; 95% CI: 1.77–2.85) assoziiert. Klinisch behandelt wurden mit 22,9 Prozent der Fälle vor allem Agitiertheit/Irritabilität, gefolgt von Tachykardie (21,4 Prozent). Ingesamt gab es 11 Todesfälle bei Menschen im Alter von 22 bis 38 Jahren, die mit der Einnahme von Kratom assoziiert waren. Bei zwei Todesfällen hatten die Personen ausschließlich Kratom und keine weiteren Substanzen eingenommen. Bei sieben der restlichen neun Todesfälle war Kratom „first-ranked“.
Eigentlich besitzt Kratom eine sedierende, analgetische Wirkung. In geringer Dosierung wirkt die Pflanze im Gegensatz zu klassischen Opioiden hingegen aufputschend. „Wenn man sich die Wirkweise von Kratom ansieht, entspricht sie nicht wirklich jener von Opioiden“, sagt Co-Autor Henry Spiller vom Central Ohio Poison Center. „Wir beobachten Krampfanfälle, Herzrasen, Bluthochdruck, Agitiertheit. Wäre es ein klassisches Opiat, würde man eher eine Atemdepression oder langsames Atmen erwarten“, so Spiller.
Die FDA äußerte bereits ihre Bedenken gegenüber der Pflanze, die lange Zeit als Lösung für das Opioidproblem gehandelt wurde. „Es gibt keine bewährten medizinischen Anwendungen für Kratom und die FDA rät der Öffentlichkeit klar von einer Einnahme ab“, sagte der FDA-Beauftragte Dr. Scott Gottlieb letztes Jahr in einem Statement.
In den USA haben sich bisher nur die Staaten Alabama, Arkansas, Indiana, Tennessee, Vermont und Wisconsin zu gesetzlichen Maßnahmen gegen den Gebrauch und den Verkauf von Kratom entschieden. Hierzulande wurde der Einsatz der Droge zwar bereits im Sachverständigenausschuss diskutiert, dennoch fällt Kratom in Deutschland bisher noch nicht ins Betäubungsmittelschutzgesetz und ist so gesehen nicht illegal. „Keine Strafbarkeit bei Verkauf von Kratom-Produkten nach dem AMG“ lautete der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln im Jahr 2015.
Post und ihre Kollegen machen in der Arbeit auf die hohe Zahl an Kratomkonsumenten aufmerksam, die mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen zu kämpfen haben, besonders wenn die Droge mit anderen Substanzen kombiniert wird. Um die menschliche Reaktion auf Kratom in seiner Vollständigkeit zu verstehen, ist noch viel weitere Forschung auf dem Gebiet notwendig. Zudem fordern sie strengere Regulierungen für die Arznei, die mehr Qualität und Sicherheit garantieren, als es bisher der Fall ist. Menschen, die sich zu einer Einnahme von Kratom entscheiden, sollten über potenzielle Risiken, speziell in Kombination mit anderen Substanzen, informiert werden.
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