Zehn Jahre – so viel Zeit vergeht durchschnittlich nach Auftreten der Symptome, bis ein Arzt eine Narkolepsie diagnostiziert. Das liegt unter anderem an unspezifischen Symptomen. Es gibt aber noch ein anderes Problem: Viele Ärzte haben die Krankheit gar nicht auf dem Schirm.
Narkolepsien zählen zu den seltenen Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus. Bundesweit sind circa 40.000 Patienten betroffen. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Narkolepsie viel zu selten als solche erkannt wird. Schließlich sei Narkolepsie „in der Allgemeinbevölkerung wenig bekannt“ und werde deshalb „von Ärztinnen und Ärzten oft nicht oder zu spät diagnostiziert,“ wie Claudio Bassetti, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Neurologie und Professor an der Uni Bern unlängst betonte. Dass die Symptome unspezifisch sind, erschwert die Diagnose dieser Erkrankung noch zusätzlich. Schon 2011 forderte Geert Mayer, damals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM): „Aufklärung unter neurologischen Fachkollegen wie in der Bevölkerung ist nötig, um Narkolepsie früher erkennen, schneller abgrenzen und erfolgreicher therapieren zu können.“ Wo liegt das Problem?
Narkolepsie betrifft nicht vorrangig den Nachtschlaf. Vielmehr quälen sich Betroffene mit schwerer Tagesschläfrigkeit, Einschlafattacken und kataplektischen Anfällen. Das heißt: Durch Reize wie Emotionen kommt es zum Verlust der Muskelkontrolle. Nicht immer treten alle Beschwerden so deutlich auf, dass Ärzte sofort eine Narkolepsie diagnostizieren. Ulf Kallweit von der Uni Witten/Herdecke schätzt, vom Auftreten der ersten Beschwerden bis zur Diagnosestellung vergehen im Schnitt zehn Jahre. Differenzialdiagnostisch sind andere Schlafstörungen wie das Schlaf-Apnoe-Syndrom oder das Restless-Legs-Syndrom von Bedeutung. Auch nach viralen Infektionen wie bei der Mononukleose, oder Borreliose treten ähnliche Beschwerden auf. Nicht zuletzt verbergen sich hinter Schlafstörungen vielleicht auch Depressionen. Über Schlaffragebögen und Schlaftagebücher erfassen Patienten ihre Beschwerden detailliert. Schlafmediziner suchen gezielt nach den Hauptsymptomen Tagesschläfrigkeit und Kataplexie. Auch eine Polysomnografie, sprich eine Messung biologischer Parameter während des Tag- oder Nachtschlafs, zeigt, ob tatsächlich eine Narkolepsie vorliegt.
Als Ursache sehen Neurologen heute den Untergang Hypocretin-produzierender Neuronen im Hypothalamus. Hypocretine, auch Orexine genannt, sind Neuropeptid-Hormone, die im Hypothalamus gebildet werden. Sie haben Einfluss auf unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Der zugrundeliegende Mechanismus des Hypocretin-Verlusts blieb aber bislang ein Rätsel. Ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte, bringen molekulargenetische Untersuchungen: Rund 95 Prozent aller Betroffenen weisen eine spezifische genetische Signatur im Allel DQB1*0602 auf. Jetzt kam Federica Sallusto von der ETH Zürich erstmals dem Verursacher der Krankheit auf die Spur. In ihrer Studie fand sie bei 19 Patienten T-Lymphozyten mit Reaktivität gegen verschiedene Proteine im Hypothalamus. Dazu gehörte vor allem Hypocretin. Es kam zu Entzündungsreaktionen, und hypokretinproduzierende Neuronen gingen zu Grunde. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe ohne die Krankheit. Hier waren die Zellen nur bei 3 von 13 Personen nachweisbar, noch dazu mit deutlich niedrigerem Titer. „Wenn wir autoreaktive T-Zellen in frühen Stadien blockieren, können wir möglicherweise den neuronalen Verlust begrenzen und das Fortschreiten der Krankheit verhindern“, schreibt Sallusto in einer Mitteilung. Prof. Claudio A. Bassetti vom Schlaf-Wach-Epilepsie-Zentrum (SWEZ) in Bern, erklärt optimistisch: „Die Publikation wird auch neue Möglichkeiten einer frühzeitigen Diagnose und neuer Behandlungsansätze dieser stark einschränkenden Krankheit eröffnen.“
Bei Narkolepsie soll es sich aber nicht nur um eine Autoimmunkrankheit handeln. Auch Umwelteinflüsse spielen vermutlich eine große Rolle – etwa auch Impfungen? Im Jahr 2011 war es bei 31 Millionen Pandemrix®-Dosen zu rund 1.300 Narkolepsie-Fällen in Zusammenhang mit der Vakzine gekommen, vor allem in den skandinavischen Ländern, vereinzelt aber auch hierzulande. Andere Impfstoffe gegen die „Schweinegrippe“-Pandemie 2009/2010 (Influenza A/H1N1) zeigten keine solche Effekte. Bereits Mitte 2010 gab es aufgrund epidemiologischer Daten Hinweise auf den möglichen Zusammenhang. Forscher vermuteten später eine „molekulare „Mimikry“: Antikörper könnten sich nicht nur gegen Bestandteile Influenzaviren, sondern auch menschliches Hypocretin richten. Warum das Phänomen nur mit Pandemrix® in Zusammenhang gebracht wird, könnte mit unterschiedlichen Antigenen in Vakzinen erklärt werden. Syed Sohail Ahmed von Novartis Vaccines sieht nicht Peptidhormone, sondern Hormonrezeptoren als Zielstruktur der Antikörper-Attacken. Tatsächlich ließen sich Antikörper gegen den Hypocretin-Rezeptor 2 bei Pandemrix®-Patienten finden. Damit die Krankheit aber letztlich ausgelöst wird, muss noch ein weiteres Ereignis eintreten. Um Neuronen anzugreifen, müssen Antikörper die Blut-Hirn-Schranke passieren. Normalerweise können sie das aber nicht. Nur, wenn es etwa zu Erkrankungen oder Infektionen kommt, kann sich die Blut-Hirn-Schranke kurzzeitig öffnen und Antikörper durchlassen. Warum die Narkolepsie-Fälle häufiger in skandinavischen Ländern auftraten, erklärt Ahmed mit der Verteilung von HLA-DQB1*0602 auf folgender Karte. In den roten Bereichen ist dieses Allel häufiger anzutreffen als in gelben Bereichen. Häufigkeit von HLA-DQB1*0602 in verschiedenen Ländern (Angabe in %) © S. Sohail Ahmed et al, Hum Vaccin Immunother, doi: 10.1080/21645515.2016.1171439 Die wissenschaftliche Kontroverse um Pathomechanismen ist aus sozialrechtlicher Sicht zweitrangig. Zur Anerkennung von Narkolepsie als Gesundheitsschaden genügt „die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs“ (§61 Infektionsschutzgesetz, IfSG). Das haben Gerichte vor wenigen Monaten erneut bestätigt (Az.: 4 VJ 4/15). In der Sache ging es um eine zum Zeitpunkt der Impfung 12-jährige Patientin. Sie leidet heute an Narkolepsie und hat Anspruch auf eine eine Rente gemäß §60 IfSchG. Ihr Anspruch war zuvor abgelehnt worden.
Zwar ist die Krankheit nicht heilbar, aber es gibt Möglichkeiten, zu intervenieren. Die Leitlinie rät zu Coping-Strategien, um Triggerfaktoren zu vermeiden. An individuell angepasste Tagschlafepisoden sollte ebenfalls gedacht werden, auch wenn dies nicht immer möglich ist. Im Bereich der Pharmakotherapie sind Modafinil, Natriumoxybat oder Methylphenidat bei Tagesschläfrigkeit die erste Wahl. Alternativ bleiben off label Ephedrin, Dexamphetamin oder MAO-Hemmer. Bei Kataplexien rät die Leitlinie zu Natriumoxybat, Clomipramin, zu selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI), tri- bzw. tetrazyklischen Antidepressiva oder zu MAO-Hemmern. Pitolisant, ein H3-Antihistaminikum, wurde in Europa als Orphan Drug zugelassen. Die relevante Studie zeigte, dass Kataplexieanfälle um 50 Prozent reduziert werden konnten, verglichen mit Placebo. Die Zahl an Patienten mit mehr als 15 Anfällen pro Woche ging um das Dreifache zurück. Auch die Tagesschläfrigkeit besserte sich. Als Nebenwirkungen waren Übelkeit, Kopfschmerzen und Angstzustände von Bedeutung.
Thomas C. Thannickal, Wissenschaftler an der University of California in Los Angeles (UCLA), stieß per Zufall auf einen interessanten Befund, mit dem der Verlust von Hypocretin-produzierender Neuronen entgegengewirkt werden könnte. In den USA kommt es häufig zum Opiat-Abusus, und viele Menschen sterben daran. In den Gehirnen von Herointoten fand Thannickal 54 Prozent mehr Hypocretin-bildende Neuronen als in Kontrollen ohne Opiatabhängigkeit. Unterschiedliche Dichte Hypocretin-produzierender Zellen im gesunden Gehirn (links) und bei Heroinabhängigkeit © UCLA Um seine Vermutung, dass hier tatsächlich eine Kausalität vorliegt, zu bestätigen, folgten Tierexperimente. Bei gesunden Mäusen kurbelte Morphin die Hypocretin-Produktion im Gehirn an. Vier Wochen nach dem Absetzen war alles wieder beim Alten. Klinische Studien gibt es noch nicht. Ein alter Fallbericht deutet allerdings in eine ähnliche Richtung. Der damals 64-jährige Narkolepsie-Patient konnte aufgrund einer koronaren Herzerkrankung nicht mit Psychostimulanzien behandelt werden. Diese Wirkstoffe stehen bei Narkolepsie an erster Stelle. Der Patient litt an Nierenversagen im Endstadium. Die Ärzte verordneten ihm aufgrund von Schmerzen Codein. Tatsächlich wirkte das Opiat nicht nur analgetisch, sondern besserte die Narkolepsie ebenfalls. Weitere Studien müssen folgen, um die Beobachtung in eine brauchbare Therapie zu überführen. Auch wenn Narkolepsie nach wie vor eine unheilbare Erkrankung ist, so gibt es trotz aller Einschränkungen einige symptomlindernde Behandlungsoptionen, die Ärzten zur Verfügung stehen.