Ein Blick in den Mund eines Patienten kann viel über seinen Gesundheitszustand verraten. Der Zahnarzt hat hier auch die Möglichkeit, Erkrankungen zu erkennen, die nicht in seinen Fachbereich fallen. Sollte dieses Wissen effizienter genutzt werden?
Menschen, die sich völlig gesund fühlen, nehmen in der Regel die jährliche Kontrolluntersuchung beim Zahnarzt in Anspruch, während sie ihren Hausarzt unter Umständen nicht aufsuchen. In solchen Fällen haben Zahnärzte die Chance, bislang unerkannte Erkrankungen aufzudecken, bevor sie der Hausarzt entdeckt. Diese Möglichkeit könnte viel intensiver genutzt werden, als es bisher der Fall ist. Auf welche Weise lässt sich das Wissen über den Gesundheitszustand der Zähne für andere Fachbereiche nutzen?
Der Ruf nach einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Allgemein- und Zahnmedizin wird immer lauter. Das Potential dafür ist groß, denn es ist belegt, dass Parodontitis nicht nur mit Diabetes im Zusammenhang steht, sondern auch mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder rheumatoider Arthritis.
Inzwischen kommt die Expertise der Zahnärzte und Kieferchirurgen auch bei seltenen Erkrankungen ins Spiel, die weniger als einen von 2.000 Menschen betreffen. In Deutschland leben ca. 4 Millionen Betroffene, die oft eine Odyssee bis zur Diagnose durchleben, die nach durchschnittlich fünf Jahren erfolgt. Weltweit gibt es zwischen 5.000 und 8.000 „medizinische Waisenkinder“, die Erkrankungen sind in 80 Prozent der Fälle genetisch bedingt. Rund 15 Prozent der seltenen Erkrankungen gehen mit Symptomen im Mund oder am Kopf einher. Theoretisch sitzen 600.000 Menschen mit seltenen Erkrankungen, die Symptome im Mund- oder Kopfbereich aufweisen können, einmal jährlich auf dem Behandlungsstuhl. Beispielsweise kann sich ein Morbus Crohn durch Aphten, Ulzerationen der Mundschleimhaut oder noduläre Hyperplasien ankündigen.
Besonders häufig sind Zahnärzte mit diabetologischen Problemen konfrontiert. Denn es gibt bidirektionale Zusammenhänge zwischen Parodontitis und Diabetes, das heißt, beide Krankheiten beeinflussen sich gegenseitig. Dr. Gerhard Schmalz hat sich auf den Bereich Präventivzahnmedizin spezialisiert. Er verfolgt ein Konzept, das dabei helfen soll, Diabetiker möglichst früh als solche zu erkennen. Durch eine Kombination aus einer schweren Parodontitis und dem Ergebnis eines einfachen Fragebogens zur Bestimmung des Diabetes-Risikos (Findrisk) können Diabetiker mit einer Spezifizität von 80 Prozent von Gesunden getrennt werden. Liegen eine schwere Parodontitis und ein Ergebnis von 12 oder mehr Punkten des Fragebogens vor, so werden seine Patienten aufgefordert, den Hausarzt aufzusuchen – ein wissenschaftlich fundierter und einfach umsetzbarer Ansatz.
In einem Kongress-Vortrag erläuterte Oralchirurg Prof. Joachim Jackowski die Rolle der Zahnmedizin bei der Diagnostik seltener Erkrankungen. Er wies auf das Dilemma hin, dass es zwar eine Reihe von Datenbanken für seltene Erkrankungen gibt, aber keine, die spezifisch zahnmedizinische Symptome nennt. Das kann zu einer schwierigen und aufwändigen Suche oder Irrfahrt führen. Er schilderte eine Reihe von Fällen, die er in seiner Laufbahn beobachtet hat, unter anderem den „Lapsus diagnosticus“ – wenn etwa ein Morbus Behçet mit wiederholt auftretenden großen Apthen nicht als solcher erkannt wird. Für blasenbildende Erkrankungen gibt es viele Differentialdiagnosen: Dr. Jackowski beschrieb den Fall einer Patientin mit Pemphigus vulgaris. Auch bei dieser Erkrankung treten im Frühstadium Läsionen in der Mundschleimhaut auf. Die Erkrankung wurde bei der Patientin über sieben Jahre hinweg unter anderem deshalb nicht diagnostiziert, weil eine Probe fälschlicherweise in Formalin gelagert wurde. Dadurch ergab sich ein falsch negativer Befund – solche speziellen Informationen sind unter Umständen schwierig zu finden.
Um eine Zuordnung von Symptomen aus dem Mund- und Kopfbereich zu erleichtern, hat Dr. Jackowski gemeinsam mit Kollegen die ROMSE-Datenbank zur Erfassung orofazialer Manifestationen bei Menschen mit seltenen Erkrankungen ins Leben gerufen. Sie umfasst 541 seltene Erkrankungen mit orofazialen Symptomen, wie verschiedene Arten von Zahnanomalien, Veränderungen der Mundschleimhaut, Dysgnathie und Spaltanomalien.
Artikel von Karen Zoufal
Bildquelle: University of the Fraser Valley, flickr