Die Ätiologie der Schizophrenie war bisher unklar. Forscher haben nun entdeckt, dass bestimmte Gen-Varianten mit einem erhöhten Schizophrenie-Risiko einhergehen und möglicherweise zu einem exzessiven Beschneiden von Synapsen während der Adoleszenz führen.
Weltweit sind etwa 1 % der Bevölkerung mindestens einmal im Leben von einer Schizophrenie betroffen, in Deutschland leiden aktuell schätzungsweise 800.000 Menschen unter dieser schweren psychischen Erkrankung. Charakteristisch sind fundamentale Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und des Erlebens, die von Beeinträchtigungen bis hin zum Verlust des Realitätsbezugs reichen können. Die Heritabilität der Erkrankung wird häufig mit 81 % angegeben, was für einen starken genetischen Einfluss spricht.
Eine frühere Studie hatte bereits 108 Schizophrenie-assoziierte Loci identifiziert, von denen die MHC-Region auf Chromosom 6 die höchste Assoziation mit dem Erkrankungsrisiko aufwies. Diese genetisch sehr komplexe Region umfasst jedoch hunderte Gene, von denen viele für ihren Einfluss auf die Immunfunktion bekannt sind – welches Gen genau das Schizophrenie-Risiko erhöht, blieb bis jetzt aber ebenso unklar wie der ursächliche biologische Prozess. „Seit Schizophrenie erstmals vor mehr als einem Jahrhundert beschrieben wurde, ist die zugrunde liegende Biologie eine Black Box gewesen, zum Teil, weil es praktisch unmöglich gewesen ist, die Erkrankung in Zell- oder Mausmodellen nachzubilden“, erklärt Steven McCarroll, einer der federführenden Autoren der nun veröffentlichten Studie [Paywall]. „Das menschliche Genom stellt einen mächtigen, neuen Zugang zu dieser Krankheit dar. Den genetischen Einfluss auf das Risiko zu verstehen, bietet einen Weg, um diese Back Box aufzustemmen, hineinzublicken und zu beginnen, echte biologische Mechanismen zu sehen.“ Dazu analysierten die Gruppen um McCarroll und seine Kollegen Beth Stevens und Michael Carroll von der Harvard Medical School, dem Broad Institute und dem Boston Children’s Hospital die Genome von 28.799 Schizophrenie-Patienten und 35.986 Kontrollpersonen. Außerdem untersuchten die Forscher ca. 700 Gehirne von Verstorbenen und nutzten die Möglichkeiten gentechnisch veränderter Mausmodelle. Auf der Suche nach dem für Schizophrenie verantwortlichen Gen mussten die Forscher dabei völlig neue Analysemethoden entwickeln. Ihr Fokus richtete sich schnell auf die Komplementfaktor-C4-Gene im MHC-Locus, die sich durch eine überraschend hohe strukturelle Variabilität auszeichnen: Die Genome verschiedener Personen haben eine stark unterschiedliche Anzahl an Genkopien und außerdem vier verschiedene Varianten (C4A und C4B, jeweils als Kurz- und als Langvariante). Die Forscher stellten nun fest, dass es ein auffälliges Muster gab: In Schizophrenie-Patienten wurden besonders jene C4-Varianten gefunden, die die Expression von C4A im Gehirngewebe fördern.
Der Komplementfaktor C4 war bisher für seine Rolle im angeborenen Immunsystem bekannt. Dort markiert er die Oberfläche bestimmter Mikroorganismen und vermittelt so deren Opsonierung. Dadurch können diese Pathogene leichter als fremd erkannt und von phagozytierenden Zellen eliminiert werden. Die Forscher konnten nun im Mausmodell eine analoge, bisher unbekannte Funktion im Gehirn nachweisen: Hier scheint C4 dafür zu sorgen, dass ein anderer Komplementfaktor (C3) an die Synapsen angelagert wird. Dies dient als Signal für die Beschneidung (engl. Pruning) der Synapsen durch Mikroglia-Zellen. Außerdem stellten die Forscher fest, dass die Synapsen umso stärker beschnitten wurden, je mehr C4-Kopien das Genom der Mäuse enthielt. Pruning ist ein normaler Prozess [Paywall], der während der Reifung des Gehirns stattfindet und dafür sorgt, dass entsprechend dem „use it or lose it“-Prinzip nur die Synapsen erhalten bleiben, die häufig verwendet werden. Die Studiendaten weisen nun darauf hin, dass bei Personen mit Schizophrenie-Risikovarianten von C4 eine exzessive Markierung von Synapsen erfolgt, wodurch mehr Synapsen als normal eliminiert werden. Dies könnte die Ursache für die Schizophrenie-typischen kognitiven Symptome sein und außerdem erklären, warum die Gehirne von Schizophrenie-Patienten tendenziell weniger graue Substanz und einen dünneren Cortex cerebri aufweisen. Und es könnte ebenfalls der Grund dafür sein, warum die Erkrankung typischerweise während des Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter auftritt: Gerade in dieser Entwicklungsphase kommt es zu ausgeprägten Pruning-Prozessen im Gehirn.
Die Ergebnisse der Studie scheinen manch einen zu großem Optimismus zu verleiten. „Diese Studie markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf gegen psychische Erkrankungen“, meint beispielsweise Bruce Cuthbert, geschäftsführender Direktor des US-amerikanischen National Institute of Mental Health, das die Studie mitfinanziert hat. „Da die molekularen Ursachen von psychiatrischen Erkrankungen wenig verstanden sind, gibt es nur vereinzelte Bemühungen von Pharmaunternehmen, neue Therapeutika zu entwickeln. Mit dieser Studie werden die Karten neu gemischt. Dank dieses genetischen Durchbruchs können wir endlich das Potenzial für klinische Tests, Früherkennung, neue Therapien und auch Prävention sehen.“ Sollten die neuen Ergebnisse tatsächlich eine kurative Behandlung der Schizophrenie ermöglichen, wäre das ein großer Fortschritt, denn bisher können nur die Symptome der Erkrankung behandelt werden. Auch ein Screening von Risikopatienten erscheint denkbar, doch Studienautor McCarroll rät zur Vorsicht: „Ein Gentest wird von uns nicht empfohlen. Der Wert [dieser Entdeckung] liegt darin, dass das Gen diese Einsicht in die Biologie ermöglicht hat, welche der Schizophrenie zugrunde liegt. Wir hoffen, dass dies mit der Zeit zu völlig neuen medizinischen Ansätzen führt, welche den ursächlichen Krankheitsmechanismus behandeln.“
Ähnlich sieht das auch Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität München. Für ihn ist ein Gentest zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll: „Alle Daten, mit denen wir rechnen, zeigen, dass die genetischen Informationen, die wir im Augenblick haben, nicht wirklich zu einer sauberen Vorhersage führen.“ Für ihn muss sich zudem der prädiktive Wert genetischer Schizophrenie-Marker erst noch beweisen. „Wir brauchen langfristige Studien mit mehreren Tausend Teilnehmern, bevor wir sagen können, ob die Genetik sich für Aussagen zum Übergang in eine Psychose oder zum Verlauf der Erkrankung eignet.“ Er warnt außerdem davor, sich auf die Analyse einzelner Gene zu beschränken, bei der Entstehung einer Schizophrenie könnten nämlich soziale Faktoren ebenso wichtig sein. „Man muss beides sehen: Das genetische Setup, mit dem jemand in eine Umwelt geht, und die Umwelt, die mit einem agiert“, erklärt Falkai. Bis neue, auf dem Komplementsystem basierende Behandlungsansätze bereit für den Praxis- und Klinikalltag sind, bleibt Ärzten und betroffenen Patienten nur die bislang empfohlene Standardtherapie, bestehend aus psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Maßnahmen sowie pharmakologischen Interventionen mittels Antipsychotika. Atypischen Antipsychotika wie Risperidon, Quetiapin und Olanzapin sollte dabei, wenn möglich, der Vorzug gegenüber konventionellen Antipsychotika wie Haloperidol, Flupentixol oder Perphenazin gegeben werden. Adjuvant können Benzodiazepine, Antikonvulsiva, Lithium und Antidepressiva zum Einsatz kommen.