Virale DNA-Abschnitte endogener Retroviren können zur Wirksamkeit innovativer Krebsmedikamente beitragen. Sichtbar wird dies vor allem, wenn man Tumorzellen mit Wirkstoffen behandelt, die als HDAC-Inhibitoren bezeichnet werden.
Jeder Mensch trägt die Erbinformation endogener Retroviren in seinen Zellen. Diese virale DNA wird gern als nutzloser Ballast („junk-DNA“) angesehen. Eine Arbeitsgruppe um Matthias Dobbelstein von der Universität Göttingen konnte jedoch zeigen, dass die DNA endogener Retroviren weit mehr ist. Oft fügten die Viren ihre Erbinformation nämlich so in die des Wirts ein, dass sie neben funktionalen Genen zu liegen kam. So kann die Übersetzung der Gene in RNA und in Eiweißmoleküle durch die Virus-Abschnitte gesteuert werden. Im Rahmen des Projektes wurde klar, dass dies für Hunderte von Genen unseres Körpers gilt.
Die Aktivität der viralen Genabschnitte, bezeichnet als LTR12, wird besonders hoch, wenn man die Zellen mit einem bestimmten Krebs-Medikament behandelt, nämlich mit einem Inhibitor der Histone-Deazetylasen (HDACs). HDAC-Inhibitoren führen zu einer Aktivierung solcher Gene, die in der Nähe eines LTR12 liegen. Die Forscher klärten auch die Frage, welche der verschiedenen HDACs hierfür gehemmt werden müssen. Hierfür reichen selektive Hemmstoffe von HDACs der Klasse I aus. „Uns interessierte besonders die Frage: Könnte diese LTR12-vermittelte Genaktivierung nach Behandlung mit HDAC-Inhibitoren auch zum Tod von Tumorzellen beitragen?“, erklärt Dobbelstein. Bei diesen Untersuchungen stellte sich heraus, dass auch ein alter Bekannter unter den LTR12-induzierten Genen war: Ein Todesrezeptor mit der offiziellen Bezeichnung „TNFRSF10B“, besser bekannt als „Killer-DR5“, wird über LTR12 induziert. Wenn die Tumorzelle aber mehr von diesem Rezeptor herstellt, dann kann sie leicht in die Apoptose getrieben werden. Tatsächlich scheint dieses Gen wesentlich zur Wirkung von HDAC-Inhibitoren gegen Tumorzellen beizutragen.
Bisher haben sich die Forscher vor allem mit Hodenkrebs-Zellen befasst, weil sich gerade dort die Aktivität von LTR12 gut beobachten lässt. „Es könnte aber durchaus auch in anderen Tumorarten funktionieren“, meinen die Erstautorinnen Frau Dr. Ulrike Beyer und Frau Dr. Sonja Krönung. Erste Ergebnisse weisen in diese Richtung. Bis zu einer Anwendung an Patienten ist es allerdings noch ein weiter Weg, da vor allem die klinische Wirksamkeit verschiedener HDAC-Inhibitoren noch genau festgestellt werden muss. Zahlreiche klinische Studien mit solchen Inhibitoren sind weltweit im Gange. Sollten sie Erfolg haben, dann könnten uralte Virusabschnitte neuen Medikamenten zur Wirkung verhelfen. Originalpublikation: Comprehensive identification of genes driven by ERV9-LTRs reveals TNFRSF10B as a re-activatable mediator of testicular cancer cell death. Ulrike Beyer et al.; Cell Death & Differentiation, doi: 10.1038/cdd.2015.68; 2015