Die Implant-Files haben das Vertrauen in Ärzte und Endoprothesen deutlich geschmälert. Kliniken wollen den angekratzten Ruf mit Fast-Track-Strategien verbessern: Patienten sollen am Tag ihrer Hüft-OP schon wieder auf eigenen Füßen stehen. Kann das funktionieren?
Im Herbst letzten Jahres schafften es investigative Journalisten der Süddeutschen Zeitung und anderen Medien, das Vertrauen in künstliche Gelenke und deren bisherige Erfolgsgeschichte deutlich zu schmälern. Die „Implant-Files“ dokumentierten Materialmängel, CE-Zertifikate, die ungeprüft vergeben und Komplikationen, die nicht an die Aufsichtsbehörden gemeldet wurden. Dazu tauchen immer wieder Berichte wie etwa jener im „Spiegel“ auf, nach denen viele Operationen an Gelenken gar nicht notwendig wären, DocCheck berichtete.
Auf der letzten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik stand daher ein Thema im Mittelpunkt, mit dem der Verband den etwas angekratzten Ruf mit einer Qualitäts-Offensive wieder verbessern möchte: „Fast-Track“-Strategien für Knie und Hüfte sollen den Patienten nicht nur schneller wieder aus der Klinik heraus-, sondern ihn auch schmerzloser wieder zu seinen ursprünglichen sportlichen Aktivitäten zurückführen.
Dabei ist das Konzept, den Patienten schnell zu mobilisieren und die stationäre Aufenthaltsdauer so kurz wie möglich zu halten, keineswegs neu. Im Lancet beschrieben Henrik Kehlet und seine Kollegen aus Kopenhagen bereits 1995 den Erfolg rascher Mobilisation, Epiduralanästhesie und früher oraler Ernährung bei laparoskopischen Darmoperationen. „Das Bett ist der schlechteste Platz,“ so Kehlet in einem Gespräch, „an dem ein Patient nach der Operation bleiben kann.“
Neben dem Begriff „Fast Track“ hat sich inzwischen auch die die Abkürzung ERAS (Enhanced Recovery after Surgery) eingebürgert. „Das Prinzip besteht darin,“ beschreibt Karl-Dieter Heller vom Herzogin Elisabeth-Hospital in Braunschweig die Methode, „alles Unnötige und Überholte bei der Therapie weitest möglich wegzulassen.“ Dazu gehört auch die Vollnarkose, die – wenn möglich – durch schonende Regional- und Rückenmarksanästhesie ersetzt werden kann. Auch sollten minimal-invasive Operationstechniken und eine Patientenschulung, die schon einige Zeit vor der Operation beginnt, durchgeführt werden.
Eine solche optimale Patientenversorgung kann jedoch nur gelingen, wenn der Patient vor der Operation in einen bestmöglichen Gesundheitszustand versetzt wird. Das bezieht sich beispielsweise auf die Behandlung von Vorerkrankungen wie Diabetes, Rheuma oder Herzinsuffizienz. Die behandelnde Klinik sollte dementsprechend Auffälligkeiten bei den Blutwerten wie etwa eine Anämie vor der Operation korrigieren, wie es das Konzept des „Patient Blood Management“ vorsieht. Es kann bei diesen Maßnahmen helfen, doch deutsche Kliniken haben es bisher noch nicht routinemäßig umgesetzt.
Ein Bestandteil einer auf den jeweiligen Patienten abgestimmten Narkose ist die lokale Infiltrationsanästhesie (LIA). Der Operateur appliziert das Anästhetikum dabei direkt auf das Operationsgebiet. Die Kombination einer Spinalanästhesie zusammen mit einem Schlafmedikament vermindert postoperative Übelkeit und Erbrechen (PONV) und hat den Vorteil, dass der Patient bereits im Aufwachraum klar im Kopf ist und mit einer anschließenden Mahlzeit schnell wieder zu Kräften kommt.
Der Blutverlust verringert sich durch die minimalinvasive Technik und den Einsatz antifibrinolytischer Wirkstoffe wie etwa Tranexamsäure auf ein Minimum. Philipp Drees von der Universitätsklinik Mainz berichtet dabei von gerade einmal 100 ml und einer Transfusionsrate von weniger als einem Prozent. Andreas Roth von Leipziger Uniklinik ergänzt: „Dadurch ist es in Zukunft nicht mehr erforderlich, eine den Bluterguss ableitende Drainage in das operierte Gelenk zu legen, so dass hier langfristig weniger Komplikationen zu erwarten sind.“
Zusätzlicher Vorteil ist dabei die Möglichkeit zu schnellerer Mobilisation des Gelenks. Allerdings ist beim Einsatz von Tranexamsäure auch Vorsicht geboten: Kontraindikationen gibt es bei Patienten, die einen Schlaganfall eine Thrombose, eine Embolie oder eine koronare Herzkrankheit hinter sich haben. Zudem muss der Arzt seinen Patienten besonders aufklären, weil der Wirkstoff für Endoprothetik nicht zugelassen ist.
Sieht man von älteren Patienten ab, hat ERAS das Ziel, den Frischoperierten noch am gleichen Tag auf eigenen Füßen auf die Toilette oder auf den Flur zu bringen. In vielen Kliniken wurden dazu für Physiotherapeuten neue Dienstpläne entworfen, um auch den am Nachmittag Operierten noch am Abend zu ersten Bewegungsübungen zu verhelfen. Oft schon am übernächsten Tag geht es für diese Patienten in den Park oder durch lange Klinikflure. In Mainz zählt die Gehstrecke (mit Stöcken) zu den Entlassungskriterien: Rund 150 Meter sollten es sein. In der Regel ist das in Deutschland nach fünf bis sieben Tagen der Fall. In Skandinavien bleiben die Endoprothesen-Empfänger rund drei Tage in der Orthopädie. Eine private Klinik in Seligenstadt entlässt manche Patienten mit der neuen Hüfte noch am Tag der Operation – dank eines neuen minimal invasiven Zugangs.
Viele Chirurgen hören den Begriff „Fast Track“ aber gar nicht so gern: Arnd Steinbrück von der Münchener Uniklinik in Großhadern wünscht sich lieber die Bezeichnung „Optimal Recovery“ anstatt dem andauernden Hinweis auf die Schnelligkeit. „Unser primäres Ziel ist es jedoch nicht, unsere Patienten früher nach Hause oder in die Rehaklinik zu schicken“, so Steinbrück. „Unnötige Belastungen für den Patienten zu vermeiden und ihn optimal darin zu unterstützen, dass er schon bald wieder so beweglich und selbstständig wie vor dem Eingriff ist – das ist unser Anliegen.“ Durch das möglichst reibungslose Ineinandergreifen verschiedener Spezialisten und der Physiotherapie-Vorbereitung noch vor der Operation soll der Patient nicht das Gefühl bekommen, den Ärzten ausgeliefert zu sein, sondern aktiv an seiner Genesung mitzuhelfen. Auch darin liegt der Sinn früher Mobilisation mit kurzen Liegezeiten, in denen das Gefühl von „Krank-Sein“ gar nicht erst entstehen soll.
Nicht immer funktioniert die Umstellung vom „bewährten“ bisherigen zum neuen System ganz reibungsfrei. Da ist zunächst einmal ein höherer Zeitaufwand für das Klinikpersonal in den Tagen vor und nach der Operation. Auch die Dominanz des behandelnden Arztes über Eingriff und die erste Phase der Genesung schwindet. Philipp Drees macht das Problem deutlich: „Sie müssen sich als Chirurg zurücknehmen, im Team agieren. Und das schafft nicht jeder.“ Für einige Fachleute ist das auch der Grund für die zögernde Verbreitung des Konzepts. Eine weitere Hürde stellt auch das Abrechnungssystem für die verkürzte Aufenthaltsdauer auf. Wenn die Kliniken eine immer kürzere Verweildauer melden, werden diese Daten im Laufe der Zeit als Vorgabe verwendet. Besonders bei jenen Kliniken, die noch nicht mit ERAS arbeiten, führt das zu immer mehr Arbeitsverdichtung – und damit weniger Zeit für den einzelnen Patienten.
Wieviel bringt das neue System dem Patienten und den Kliniken? Es gibt viele, überwiegend positive Erfahrungsberichte über die Erfolge von Fast-Track. Zumindest für den Bereich der Orthopädie gibt es jedoch keine Studien zum Erfolg der verkürzten Liegezeit, gemessen in Wiederaufnahmeraten, Zahl der Komplikationen oder auch zur Lebensqualität der Patienten nach der Rehabilitation. Für die Onkologie zeigt eine sehr kleine randomisierte Studie aus dem Jahr 2003 beim Kolonkarzinom den Erfolg. Aber auch ein Cochrane Review von 2011 konnte sich nicht auf hochwertige onkologische Studiendaten stützen. Dementsprechend gibt es bisher auch keine großen Anstrengungen, das „Schnellverfahren“ in die Leitlinien für die Endoprothesenversorgung zu hieven.
Ändern soll diesen Zustand eine Versorgungsstudie aus dem Innovationsfond des G-BA. „Promise“ soll unter anderem den Zustand von 5.000 Patienten ein Jahr nach der Fast-Track-Operation an drei Standorten dokumentieren. Vorgesehen ist dazu eine Klinik mit Belegbetten, eine Fachklinik und ein großes Universitätsspital.
Rechnet sich das Modell bei allen Vorteilen für den Patienten dann auch für die Klinik? Der Personalaufwand für Pflege und Physiotherapie am Tag der Operation und dem Tag danach sind sicher höher. Durch die schnellere Entlassung ist er aber in der Summe pro Patient in etwa gleich und erfordert vor allem eine Umstellung der Einsatzpläne.
Zuweilen äußern sich Kritiker von „Rapid-Recovery-Kliniken“ mit dem Argument einer „blutigen Entlassung“, um mit der kurzen stationären Behandlungszeit Gewinn für die Klinik zu machen. Rehabilitationskliniken können dieses Argument bisher nicht bestätigen und sind durchwegs mit dem Gesundheitszustand ihrer Neuankömmlinge mit der Endprothese zufrieden.
Dennoch haben clevere Marketing-Spezialisten von Endoprothesen-Herstellern und Vertreibern entdeckt, dass sie mit den Schwierigkeiten bei der Umstellung ein Geschäft machen können. Denn die Unterstützung dabei kann sich die Klinik dort einkaufen. Die Firma stellt dafür unter anderem einen Coach ein, der dabei hilft, die verschiedenen Berufsgruppen zusammenzubringen. So wirbt Zimmer Biomet damit, das Programm bereits in mehr als 250 europäischen Kliniken eingeführt zu haben, darunter auch knapp 20 Kliniken in Deutschland. Aber auch dePuy und andere Unternehmen in diesem Bereich haben diese Vermarktungschance erkannt.
Unter dem Namen Endo-Aktiv haben die Schön-Kliniken nach eigenen Angaben bisher rund 35.000 Patienten in den letzten sechs Jahren (Stand August 2018) auf schnelle Weise mit Endoprothesen versorgt – unabhängig von der Unterstützung durch die Herstellerfirmen. Während die acht Schön-Kliniken in Deutschland alle nach diesem Prinzip arbeiten, sind es im Bereich der Unfallchirurgie und Orthopädie immer noch wenige Häuser, die den Sprung zum schnellen, aber aufwändigen Gelenkersatz gewagt haben. Das soll sich nach den Vorstellungen deutschen Gesellschaft für Endoprothetik ändern.
Einer der Vorreiter bei den Herstellern, Zimmer Biomet, kämpft jedoch noch immer mit Klagen von Patienten wegen angeblich fehlerhafter Hüftgelenke und wurde bereits mehrmals zu hohen Schmerzensgeldern verurteilt. Aber auch dePuy musste seine Prothesen zurückrufen. Nach den „Implant-Files“ wieder Vertrauen in eine Beratung ohne Interessenkonflikte, in das Können der Klinikteams und die Qualität der Prothesen zu gewinnen, bedarf es sicher noch einiger Anstrengung und Überzeugungsarbeit.
Artikel von: Dr. Erich Lederer
Bildquelle: Hermann, pixabay