In der Notaufnahme treffe ich selten Prominente. Aber dafür kürzlich im Feierabend: Ich begegnete der Größe der Stadt. Einem Mann, den ich schon immer mal kennenlernen wollte. Und wir hatten sogar ein gemeinsames Gesprächsthema: Meine Klinik.
Er war bekannt. Bestens vernetzt mit viel Prominenz. Zu gerne hätte ich gewusst, wie er so tickt. Was ihn antreibt. Und die ein oder andere Geschichte der Stars und Sternchen hätte ich, ich gebe es zu, auch gerne direkt aus erster Hand erfahren. Wie aufregend das alles sein musste.
Ich traf ihn auf einer Veranstaltung, die ich mit meiner Schwester besuchte. Nie hätte ich ihn angesprochen. Man soll die Leute in Ruhe lassen.
Er hörte zu und plauderte
Meine Schwester ist da anders. Sie maschierte auf ihn zu, mich hinterherziehend. Da war meine Schwester schon munter am Plaudern mit dem besagten Mann. Er hörte zu, plauderte zurück. Nicht besonders herzlich, aber auch nicht abgeneigt. Mehr so höfliche Distanz. Ich wurde vorgestellt: „Das ist meine Schwester. Sie arbeitet in einer Notaufnahme.“
„Ach, wirklich! Wo denn?“
Fast war ich entzückt über das Interesse des Mannes. Hatte ich es tatsächlich geweckt? Würde er mir nun unverzüglich brisante Details anvertrauen? Würde er mich engagieren, weil ich lustige Geschichten zu erzählen hätte?
Weit gefehlt.
„Ach, da habe ich ja auch eine Geschichte!“, begann er seinen Satz unheilvoll.
Kommt jetzt die übliche Leier?
Ach, du liebe Zeit. Es schrillte die Alarmglocke. Ich ahnte, was folgen würde. Das Standardprogramm: Knieschmerzen hier, Hodenprobleme da. Ich als Krankenschwester hätte doch da bestimmt …
Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Wie schade.
Er hob an, um eine äußerst langweilig vorgetragene Geschichte eines Sturzes wiederzugeben. Er wehklagte weiter über den schmerzhaften Abtransport ins nächste Krankenhaus – „Ihre Klinik!“
Er berichtete von der höflichen und distanzierten Behandlung. Er beschwerte sich über die Wartezeit von einer halben Stunde, um dann in einem Crescendo seinen wahren Unmut kundzutun: Er musste sich ausziehen für die Untersuchung. Seine Kleider wurden in einen Sack gesteckt. In einen Sack! Lieblos. In einen Sack. „Darüber müssen wir mal reden! In einen Sack! Gestopft!“
Es war nur peinlich
Aus einem Menschen, den ich wirklich gerne kennenlernen wollte, war nicht nur ein Mann aus Fleisch und Blut geworden, sondern er hatte sich in einen lamentierenden, sich ereifernden Arsch ohne den geringsten Hauch von gesundem Menschenverstand verwandelt.
Ich versuchte einen Scherz. Ein Scherz, der die Stimmung in einer heiklen Situationen aufheitert. „Aber lieber Herr. Eine wichtige Krankenhausregel ist nun mal: Keine Diagnose durch die Hose …“
„In einen Sack!“
„Nun. Einen Gaderobenständer oder eine Garderobendame gibt es bei uns in der Tat nicht!“ Ich blieb so unfassbar höflich und gelassen.
„Lieblos! In einen Sack! Nach der Untersuchung konnte ich mir meine Hose selber wieder aus dem Sack heraussuchen. Aus dem Sack! Wie bei der Müllabfuhr!“
Die Tragödie eines Vollpfosten
Ja. Das sind schlimme Schicksale, die täglich in den deutschen Notaufnahmen anzutreffen sind. Lieblos werden sorgfältig angekleidetet Stücke vom Leib gezerrt und in Säcken verstaut. Wir nennen sie Tüten, ja, manchmal sogar „Patienteneigentum“. Sack klingt aber auch nicht schlecht. Beschriftet mit dem Namen des Klamottenspenders werden sie an eine geeigente Stelle gelegt, damit man sie später – in der Regel nach Untersuchungen – wiederfindet. Empörend, dass sich unser Berufsstand sogar zu schade ist, Menschen ohne Not wieder anzukleiden. Sie müssen es selbst machen. Aus einem Sack. Wie von der Müllabfuhr oder einem Discounter.
Was für ein Vollpfosten. Ob er sich in Anwesenheit der Prominez auch so benahm? Oder nur beim normalsterblichen Volk?
Auf die Frage, wie man seiner Meinung nach das Problem des Sacks lösen könne, wo es doch nun mal viele Patienten gibt, die für die ein oder andere Untersuchung ausgezogen werden müssen, konnte er vor Erregung nicht antworten. Nach einem Abschlussschnaufer „… aus einem Sack!“ kam nicht mehr viel, außer: „Das ist doch nicht mein Problem!“
Stimmt. Meines aber auch nicht.
„Schlimm“, sagte ich. Meinte es nicht und musste dringend weg.
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