Viele Medizinstudenten setzen sich für fairere Arbeitsbedingungen während des Praktischen Jahres ein. Es gibt großen Handlungsbedarf. Wer sich in den Foren umschaut, liest von Schwangeren, die zur Strafe jeden Tag einen Kurzvortrag halten müssen.
Das Praktische Jahr (PJ) ist der letzte Abschnitt des Medizinstudiums. Und vielleicht auch der wichtigste. Denn hier sollen Medizinstudenten lernen, wie es ist, als Arzt in der Klinik zu arbeiten. Sie sollen lernen, mit Patienten, Verantwortung und dem bisher erworbenen Wissen richtig umzugehen. Im PJ sollte der Grundstein für die Zukunft der Nachwuchsärzte gelegt werden. Doch allzu oft sieht der Alltag ganz anders aus. Sebastian (Name geändert) ist Medizinstudent im letzten Semester und arbeitet momentan an einer großen städtischen Klinik. Dort erlebt er jeden Tag hautnah wie das Praxisjahr, das ihn eigentlich auf den Arztberuf vorbereiten soll, in der Realität abläuft.
„Anfangs war ich noch hochmotiviert“, erzählt uns Sebastian. Aber das hat sich geändert. Der Medizinstudent absolviert aktuell sein letztes Tertial in der Chirurgie. Die Probleme fangen schon bei den hygienischen Aspekten an. „Wir haben nicht einmal eine richtige Umkleide. Frauen und Männer teilen sich einen Raum mit einem Bett, auf das alles abgeladen wird. Kein Spind. Keine Gaderobe“. Zum Beweis schickt uns Sebastian zwei Fotos. Mäntel über Mäntel stapeln sich über einer halboffenen Schranktür mit medizinischen Geräten. Reihenweise Schuhe und Taschen liegen auf einem gefliesten Boden gleich neben dem Toilettenstuhl für die Patienten. Handy und Geldbeutel müsse er immer bei sich tragen, erklärt er. Seinen Laptop, den er für die anschließende Arbeit an seinem Promotionsthema benötigt, lasse er lieber gleich zu Hause.
Als kleinstes Rad im Getriebe bekommen PJler die strukturellen Missstände unseres Gesundheitssystems häufig zuerst zu spüren. Doch was ihn am meisten störe, sagt Sebastian, sei die unflexible Regelung bezüglich der Fehltage, erklärt er. Die Fehltage werden von den meisten PJlern gehütet wie ein kostbarer Schatz. Im Praktischen Jahr darf man insgesamt 30 Tage freinehmen. Die Krux dabei: Krankheitstage zählen hierzu genauso wie Urlaubstage oder Zeit für die Prüfungsvorbereitung. In Tertialen, die die Studenten splitten, also in zwei mal acht Wochen aufteilen, dürfe zudem überhaupt nicht gefehlt werden. Wer in dieser Zeit krank wird, hat Pech gehabt.
Die meisten Medizinstudenten versuchen gesammelt 20 Tage – die maximale Anzahl an erlaubten Fehltagen innerhalb eines Tertials – am Ende des Praktischen Jahres zu nehmen. Die brauchen sie, um für das dritte Staatsexamen lernen zu können, das sich gleich daran anschließt. Dies lässt den Studenten effektiv noch zehn Tage, die sie innerhalb des restlichen Jahres fehlen können. „Viel zu wenig“, kritisiert Sebastian. Er ist eigentlich ein sehr motivierter Student, der gerne auch mal länger nach Feierabend im OP bleibt, wenn Not am Mann ist.
Statt Dank bekommt er aber zu spüren, wie sehr die Klinik auf die Anwesenheit ihrer kostenlosen studentischen Zusatzmitarbeiter angewiesen ist. Sebastian schreibt neben dem PJ seine Doktorarbeit und bittet darum, seine Ergebnisse auf einem Fachkongress vorstellen zu dürfen. Aber sein Engagement wird ihm nicht ohne Weiteres gewährt – er soll dafür zwei seiner kostbaren Fehltage nehmen. In einer Facebook-Gruppe für PJler lässt Sebastian seinen Frust raus. Er schreibt: „Schon einmal jemand im PJ im Chirurgie-Tertial für die Teilnahme an einem Chirurgen-Kongress, wo man selbst die Ergebnisse seiner Doktorarbeit präsentiert, als Dankeschön mit zwei Fehltagen bestraft worden? Ist das das normale Vorgehen?“.
Viele andere PJler können seinen Unmut verstehen. Eine Kommilitonin antwortet: „Ganz normal! Bei einer Freundin war der Vater schwerst krank und sie wurde dann noch mit Fehltagen bestraft, weil sie sich um ihn kümmern musste.“ Eine andere Studentin wiederum schreibt: „Ja, wohl leider normal. Ich soll jetzt als Dank für meine Schwangerschaft jeden Tag (!) einen Kurzvortrag im chirurgischen Bereich halten, weil mein PJ ja sonst ‚sinnlos‘ wäre.“ Sebastians Beitrag löst eine Welle der Entrüstung aus. Viele kennen das Problem mit den Fehltagen. Unangenehm sei dabei nicht die Tatsache, dass man sich für private Unternehmungen Tage freinehmen müsse – denn das ist in jedem Job so – sondern, dass auch die Krankheitstage im Voraus beschränkt seien.
Ist man zum Beispiel zwei Wochen krank, sind zehn verfügbare Fehltage schon komplett aufgebraucht, eine Katastrophe für viele Studenten. Die meisten Kliniken bieten ihren Medizinstudenten deswegen an, die verlorene Zeit am Wochenende oder an Feiertagen nachzuholen. Doch auch das ist für viele Studenten mit kleinen Kindern oder Nebenjobs nicht ohne Weiteres möglich und stellt eine große Belastung dar. Eine betroffene PJlerin antwortet Sebastian: „Ich weiß, ich kenne es nur zu gut. Ich habe teilweise stattdessen von 7.30 bis 22 Uhr am Feiertag durch gearbeitet, nur um keine Fehltage am Ende zu haben.“ Wann Zeit für Erholung der erschöpften Studenten bleibt, will niemand wissen. Viele schleppen sich übermüdet oder sogar krank zur Arbeit, was nicht nur die PJ-Studenten selbst, sondern auch Patienten gefährdet.
Eine ehemalige Studentin ruft unter Sebastians Beitrag deswegen ihre Kommilitonen dazu auf, derartige Zustände nicht unkommentiert zu lassen. Auf dem Portal pj-ranking.de können die Studenten ihre Klinikerfahrungen teilen – gute wie schlechte. „Ich hab zwar das PJ schon hinter mir, aber die Assi-Zeit ist ja auch nicht besser geregelt, wenn wir mal ehrlich sind! Man ist doch als Mediziner eh der Depp vom Dienst!“, schreibt die ehemalige PJlerin. Zwei Kliniken seien ihr in guter Erinnerung geblieben, die Tertiale dort wären ein Traum gewesen. Man hätte sie respektiert und als vollwertiges Mitglied der Station integriert. In einer anderen großen städtischen Klinik dagegen hätte sie grauenvolle Erfahrungen gemacht: „Ich war sau krank mit Attest und wurde noch nett mit Fehltagen bestraft und auch sonst behandelt wie der letzte Dreck!“, klagt sie.
Sebastian ist auch deswegen so frustriert, weil in der Verordnung über das Praktische Jahr festgehalten ist, dass 20 Prozent der Arbeitszeit für Unterrichts- und Weiterbildungsveranstaltungen wie PJ-Fortbildungen, Seminare, aber auch als Zeit für Eigenstudium reserviert sind. Doch davon spüre er nichts: „Wir werden als kostenlose Hakenhalter und Blutabnehmer ausgebeutet. Gute Lehre? Fehlanzeige.“ Stumpfe Routinetätigkeiten statt einer richtigen Examensvorbereitung seien in vielen deutschen Kliniken an der Tagesordnung. Statt auf die Visite mitzugehen und etwas über ihre Patienten zu lernen, müssen PJler wie Sebastian oft jeden Tag um die 40 Blutabnahmen schaffen. „Und es existieren zwar PJ-Seminare, in denen wir etwas lernen sollen, doch die fallen im Schnitt jede zweite Woche aus und sind oft mehr Schein als Sein“, erzählt uns eine andere PJ-Studentin, nennen wir sie Sophie, frustriert.
Nach Abschluss des Praktischen Jahres übernehmen die jungen Ärzte Verantwortung für Gesundheit und Wohlbefinden, Leben oder Tod ihrer Patienten. Darauf müssten sie angemessen vorbereitet werden, findet Sophie. „Denkst du, dass sich später jemand die Zeit nimmt, dich richtig einzuarbeiten? Nein, du wirst gleich ins kalte Wasser geschmissen und bist schon nach kurzer Zeit komplett alleine für ganze Stationen zuständig.“ Blutabnahmen, Dokumentationsarbeit und körperliche Untersuchungen alleine genügen aber nicht als kompetente Vorbereitung für den späteren Arztberuf. Wie viele andere PJler wünschen sich Sebastian und Sophie eine bessere Integration in den Stationsablauf. Das fange schon mit einem richtigen Zugang zum Patientenverwaltungssystem an. Sie können die Befunde ihrer durchgeführten Untersuchungen nicht selbst in den Computer eintragen und müssen jedes Mal einen sowieso schon gestressten Arzt fragen. Häufig werde es dann in der Eile auch einfach vergessen. Für die Patienten ein nicht zu unterschätzendes Risiko.
Ganz anders waren dagegen Sebastians Erfahrungen in der Schweiz, in der er sein zweites Tertial verbracht hat. „Hier wird man richtig als vollwertiges Team-Mitglied respektiert“, sagt er. Die hierarchischen Strukturen seien flach und man sei sehr darauf bedacht, den Medizinstudenten etwas beizubringen. Sebastian hätte in der Schweiz so viel gelernt wie in keiner anderen deutschen Klinik zuvor, erzählt er. Dabei musste er auch dort viel arbeiten. In der Schweizer Klinik aber sei er nicht nur für Blutabnahmen zuständig gewesen, sondern durfte selbstständig am Patienten arbeiten. „Ich kann gut verstehen, warum viele Ärzte aus Deutschland abwandern.“ Und noch etwas ist hier anders: im Gegensatz zu den meisten deutschen Städten bekommen die PJler ein richtiges Gehalt. Es sei zwar nicht viel und reiche gerade einmal, um die Wohnung und einen Großteil des Essens zu bezahlen, aber schon alleine das sei eine Form von Wertschätzung.
In Deutschland arbeite man häufig bis zu zwölf Stunden am Tag in der Klinik und sehe dafür keinen einzigen Cent. Rund 40 Prozent der Studenten sind im Praktischen Jahr auf ihr Erspartes angewiesen. Man kann von Glück sagen, wenn einen die Eltern, andere Verwandte oder Freunde in der Zeit finanziell unterstützen. Fast ein Drittel der PJler müssen sich neben der emotional und körperlich anstrengenden Vollzeittätigkeit zusätzlich einen kompatiblen Nebenjob suchen. Also abends, in der Nacht oder am Wochenende. „Übermüdet und mit finanziellen Sorgen lernt es sich aber nun mal überhaupt nicht gut“, kommentiert ein anderer Medizinstudent diesen Zustand trocken.
Am 16. Januar 2019 gingen deutschlandweit fast 15.000 Medizinstudenten auf die Straße, um für fairere Bedingungen im Praktischen Jahr zu demonstrieren. Auf ihren Schildern trugen sie Sprüche wie „Krank im OP – Anscheinend ok?!“, „Ich begehre gute Lehre“, „Danke für Nichts“ oder „Ausbildung statt Ausbeutung.“ Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. hat vor Kurzem eine Petition gestartet, um über die Missstände aufzuklären und sie zu verbessern. Sie fordert einheitliche Bedingungen für alle deutschen Studierenden im Praktischen Jahr. Ihr 5-Punkte-Paket umfasst neben der Auszahlung des BAföG-Höchstsatz als Aufwandsentschädigung auch das Gewähren von Krankheitstagen in gesplitteten Tertialen. Ebenfalls auf der Liste steht die Forderung nach mindestens vier Stunden Lehrveranstaltungen und acht Stunden Selbststudium pro Woche sowie ein persönlicher Zugang zum Patientenverwaltungssystem, eigene Arbeitskleidung und ein eigener Spind. Das selbsternannte Ziel von 100.000 Unterschriften habe man bereits erreicht, heißt es auf der offiziellen Facebook-Seite der Bundesvertretung. Nun werde man alles dafür geben, den „gemeinsamen Traum“ in die Realität umzusetzen.
Auch Sebastians angestoßene Diskussion in der PJler-Facebook-Gruppe zeigt, dass der Ärztenachwuchs die schlechten Bedingungen nicht länger akzeptieren will. Als eine Studentin resigniert schreibt: „Denke, das ist im PJ alles normal“, wird ihr von anderer Seite vehement widersprochen: „Das ist sehr wohl schlimm, so soll und darf es einfach nicht sein. [...] So etwas (wie von Sebastian beschrieben) hat schlichtweg nicht „normal“ zu sein.“
Zum Glück gibt es auch das Gegenteil: Deutsche Kliniken, die ihre Medizinstudenten wertschätzen, ihnen viel beibringen und einige, die eine Aufwandsentschädigung anbieten. Der Hartmannbund bietet dazu inzwischen sogar eine eigene Liste an. Hier können PJler die Lehrkrankenhäuser eintragen, die ihnen Geld- oder Sachleistungen anbieten, Zugang zu Internet/Bibliothek oder PC bereitstellen, Studientage und PJ-Unterricht ermöglichen oder die Verpflegung übernehmen. Man hat das Gefühl, die Forderungen der Medizinstudenten zeigen bereits erste Wirkungen, denn gerade die kleineren Krankenhäuser auf dem Land scheinen aufgewacht zu sein. Sie bemühen sich mittlerweile sogar mit speziellen Programmen um den dringend benötigten ärztlichen Nachwuchs. Man kann nur hoffen, dass die Großstadtkliniken bald nachziehen.
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