Trotz aller Fortschritte ist es derzeit nicht möglich, HIV zu heilen. Arzneimittel unterdrücken zwar die Virusvermehrung, greifen jedoch das in das Genom der Wirtszellen integrierte HIV-Erbgut nicht an. Ein neu entwickeltes Enzym schneidet das Provirus aus der Wirtszelle heraus.
Das HI-Virus ist ein RNA-Virus, das zu der Gruppe der Lentiviren innerhalb der Familie der Retroviren gehört. Nach dem Eindringen in die Blutbahn bindet es an CD4-Rezeptoren verschiedener Blutzellen wie beispielsweise CD4+-T-Zellen oder Makrophagen. Anschließend fusioniert das Virus mit der Zelle und setzt das Kapsid in das Zytosol frei. Im nächsten Schritt wird die Virus-RNA aus dem Kapsid freigesetzt, mithilfe der reversen Transkriptase in ein ringförmiges DNA-Molekül umgeschrieben und kann schließlich in das Genom der Wirtszelle eingebaut werden. In dieser Phase wird das HI-Virus auch als Provirus bezeichnet. Gut geschützt vor dem Angriff antiviraler Wirkstoffe kann es nun mehrere Jahre überdauern, bis die nächste Infektionsphase, die Produktion viraler Bestandteile, beginnt.
Ein Team um Frank Buchholz von der TU Dresden und Joachim Hauber vom Heinrich-Pette-Institut in Hamburg [Paywall] hatte nun die Idee, ein Enzym zu züchten, das das Provirus im Genom der Wirtszelle aufspürt und entfernt. Um jedoch Virus-DNA von der DNA der Wirtszelle unterscheiden zu können, benötigt diese „Genschere“ eine Erkennungssequenz, eine bestimmte Abfolge von Nukleotiden in dem DNA-Molekül des Virus. Hierfür untersuchte das Team die sog. Long Terminal Repeats (LTR), die sich an den beiden Enden des Provirus befinden. Dies ist eine DNA-Sequenz aus sich wiederholenden Basenpaaren, die mehrere hundert Nukleotide lang ist. Innerhalb des LTR fand das Forscherteam eine Abfolge von 34 Basenpaaren, die in mehr als 80 Prozent aller HI-Viren fast unverändert vorkommt, und nannten sie loxBTR. Ausgehend von der loxBTR-Sequenz wurde im nächsten Schritt die Enzymstruktur nach und nach mittels einer gerichteten Evolution angepasst und so eine Rekombinase mit dem Namen Broad-Range Recombinase 1, abgekürzt auch als Brec1 bezeichnet, generiert. Für die Entwicklung benötigten die Wissenschaftler ganze 145 Schritte, wobei ein Schritt etwa zwei bis drei Tage in Anspruch nahm – das bedeutet eine Gesamtzeit von etwa ein bis zwei Jahre. In anschließenden Tests an E. coli-Bakterien wurde die designte Rekombinase auf ihre Effizienz und Spezifität geprüft. Beispielsweise erkannte Brec1 die 34 Basenpaare lange DNA-Sequenz mit dem Namen loxP nicht, obwohl diese eine 32-prozentige Sequenzhomologie zu loxBTR aufweist. Weltweit finden sich immer wieder Viren, die in der Erkennungssequenz Mutationen aufweisen. Um sicher zu gehen, dass auch diese von der „Genschere“ erkannt werden würden, stellten die Wissenschaftler vier loxBTR mit jeweils einer, auch in Wirklichkeit vorkommenden Punktmutation her. Das Ergebnis: Brec1 erkannte auch diese Regionen.
Ähnliche Ergebnisse erzielten die Wissenschaftler auch in Versuchen mit Säugetierzellen (HeLa-Zellen), in denen das HIV-1-Genom stabil integriert war. Auch hier erkannte Brec1 effizient und spezifisch das loxBTR-Target. Als Nächstes wurde Brec1 an menschlichen PM1-T-Lymphozyten getestet, die mit replikationsfähigen Viren infiziert worden waren. Diese T-Zelllinie wird routinemäßig bei HIV-1-Forschungen verwendet. Während bei der Kontrollgruppe die Viruslast anstieg, setzten die Brec1-positiven Zellen keine viralen Partikel frei. Für weitere Untersuchungen verwendete das Wissenschaftlerteam aus dem Blut von HIV-Patienten isolierte CD4+-T-Zellen. Nach Transduktion mit einem lentiviralen, Brec1-positiven Vektor wurden die Zellen für 20 Tage kultiviert. Während bei der Kontrollgruppe die Viruslast anstieg und gleichzeitig die Anzahl der behandelten Zellen abnahm, blieb die Menge der Brec1-positiven CD4+-Zellen konstant und die Anzahl an freigesetzten viralen Partikel ging zurück. Laut den Autoren sei das ein Hinweis darauf, dass die Rekombinase das Provirus aus dem Genom entfernt hatte. Eine anschließende DNA-Sequenzierung (Deep Sequencing) bestätigte die Vermutung. 20 Tage nach der Transduktion konnten die Wissenschaftler keine provirale DNA in der Sequenz des DNA-Moleküls nachweisen.
Anschließend verabreichte das Forscherteam Mäusen das Brec1-positive Patientenmaterial. Nach 18 bis 21 Tagen war die Viruslast im Plasma der Tiere unter die Nachweisgrenze gesunken (<20 HIV-1 RNA-Kopien/mL). Da jedoch T-Zellen eine begrenzte Lebensdauer haben, brachte das Forscherteam im nächsten Schritt Brec1 in menschliche Blutstammzellen ein und injizierte diese anschließend neugeborenen Mäusen. Da alle Blutzellen, die von den Brec1-positiven Stammzellen gebildet wurden, auch mit der Rekombinase ausgestattet waren, zeigten Brec1-Mäuse, im Gegensatz zur Kontrollgruppe, kaum eine HIV-Belastung.
Als Nächstes wurde Brec1 auf ihre zytotoxischen, zytopathischen und genotoxischen Effekte untersucht. Hierfür wurde die Rekombinase u. a. in humane CD4+-T-Lymphozyten übertragen und anschließend auf ihre Genexpression, Apoptose und Immunaktivität sowie -funktion untersucht. Dabei ergaben sich keine signifikanten Abweichungen zwischen Brec1 und den Kontrollzellen. Zum Nachweis der Gentoxizität bestimmten die Wissenschaftler die sechs Genome, deren DNA-Sequenz mit der von loxBTR die meisten Ähnlichkeiten aufwiesen. Getestet wurden diese in E. coli-Bakterien. Aus der Tatsache, dass bei keiner dieser Nukleotidabfolgen eine Rekombination stattfand, schlussfolgerten die Autoren, dass das menschliche Genom offensichtlich keine dem loxBTR ähnliche DNA-Sequenzen enthält, die von Brec1 erkannt wird. Schließlich veränderte das Wissenschaftlerteam Mäuse genetisch so, dass diese Brec1 über einen konstitutiven Promoter exprimierten. Diese Tiere blieben über einen Zeitraum von 18 Monaten gesund.
Die Methode, das virale Erbgut aus dem Genom der Wirtszelle herauszuschneiden, ist nicht ganz neu. Bereits im Jahr 2013 konnten Wissenschaftler um Frank Buchholz und Joachim Hauber die antivirale Wirkung der Tre-Rekombinase in humanisierten Mausmodellen zeigen. Das Enzym hatten die Forscher bereits früher hergestellt. Allerdings soll die Zielsequenz in den verschiedenen HIV-1-Klassen nicht genug konserviert sein, sodass weniger als ein Prozent der HIV-infizierten Patienten von der Therapie profitieren würden. Andere Ansätze des Gene Editings sind das CRISPR-Cas9-Verfahren, Zinkfingernukleasen sowie das TALEN-Verfahren. CRISPR sind Abschnitte mit sich wiederholender DNA im Erbgut von beispielsweise Bakterien. Sie gehören zu einem Mechanismus, mit dem Bakterien fremde DNA unschädlich machen. Das CRISPR/Cas9-System [Paywall] erzeugt Doppelstrangbrüche in der Ziel-DNA, wodurch DNA-Sequenzen entfernt oder andere eingefügt werden können. Zinkfingernukleasen werden künstlich hergestellt. Sie enthalten eine bestimmte Proteindomäne mit einem koordinativ gebundenen Zink-Ion. Diese Zinkfingerdomäne bindet an eine bestimmte DNA-Sequenz, die von Nukleasen geschnitten werden. Anschließend kann fremde DNA eingebaut werden. Die Transcription activator-like effector nucleases (TALEN) sind Fusionsproteine aus einer DNA-schneidenden Endonuklease und einer DNA-bindenden Domäne. Die Verwendung einer Rekombinase habe, so die Autoren in ihrer Studie, im Vergleich zu anderen Gene Editing-Methoden den Vorteil, dass es nicht zu Doppelstrangbrüchen kommt, die Reparaturmechanismen aktivieren würden. Dies kann nicht vorhersagbare Neuordnungen der DNA-Sequenz zur Folge haben. Rekombinasen dagegen reparieren die DNA nach dem Zerschneiden selbst. Nachteil von Brec1 im Vergleich zu den Nukleasen sei jedoch, dass die Herstellung sehr zeitintensiv sei.
Mit 37 Millionen Infizierten und über 2 Millionen jährlichen Neuinfektionen stellt HIV weiterhin eine große Herausforderung für die Weltgesundheit dar. In Deutschland leben derzeit etwa 83.000 Menschen mit dem HI-Virus. Über 72 Prozent dieser Betroffenen sind mit dem HIV-1 aus der Gruppe M, Subtyp A, B oder C infiziert. Von diesen HI-Viren weisen 90 Prozent die exakte loxBTR-Sequenz auf. Da jedoch loxBTR auch in den meisten anderen HI-Viren (eventuell leicht verändert) vorkommt, gehen die Autoren davon aus, dass mehr als 28 Millionen für die Therapie infrage kämen. „Von dieser Entwicklung [Generieren von molekularen Skalpellen] werden nicht nur HIV-Patienten, sondern auch viele andere Patienten mit genetisch-bedingten Erkrankungen profitieren. Wir stehen kurz davor, das Zeitalter der Genom-Chirurgie einzuläuten“, prognostiziert Prof. Frank Buchholz euphorisch. Allerdings geben die Wissenschaftler in ihrer Studie zu bedenken, dass vor einem Einsatz am Menschen die möglichen Risiken der Gene-Editing-Technologien gegen den Nutzen gut abgewogen werden sollten. Zudem sei es gut möglich, dass ein einzelnes Verfahren HIV nicht bei allen Menschen heilen kann. Die Autoren vermuten, dass künftige Strategien der HIV-Behandlung mehrere antivirale Ansätze kombinieren. Beispiel hierfür wären Medikamente, die latente Viren aktivieren, Immunmodulatoren und Gentherapien. Doch bis es so weit ist, vergehen sehr wahrscheinlich noch einige Jahre. Der nächste Schritt wären Studien an HIV-Patienten. Ob sich die Methode bewährt, wird sich dort zeigen müssen. Einige der Autoren haben zumindest schon einmal ein Patent auf Brec1 angemeldet und würden so – sollte die Methode Erfolg haben – nicht ganz leer ausgehen. Originalpublikation:
Directed evolution of a recombinase that excises the provirus of most HIV-1 primary isolates with high specificity Karpinski et al.; Nature Biotechnology, doi: 10.1038/nbt.3467; 2016