Learning by doing klappt in der Psychotherapie meistens ganz gut. Wenn ich eine Psychotherapiemethode lernen will, ist es in aller Regel das Beste, mal ein Seminar zu belegen, in dem diese Technik angewendet wird. Insofern ist es eigentlich ganz gut, hin und wieder auf ein Seminar zu gehen, um was zu lernen.
Allerdings gibt es im großen Wald der Psycho-Seminare ein mehr als buntes Angebot, und nicht alle sind gut. Ich hatte vor ein paar Wochen Pech. Ich habe mich in ein Coaching-Seminar eingebuchtet, über das ich von Freunden nur das Beste gehört hatte. Total intensiv sei das, bringe echt viel, sei super inspirierend. Ich also mal gebucht.
Auftakt
In der ersten Stunde wusste ich zunächst nicht, ob ich in einer amerikanischen Erleuchtungs-Show vom örtlichen Fernsehprediger oder in einer Psycho-Sache gelandet war. Im Raum fanden sich zwei „Trainer“, ungefähr vier vom „Management“, gut acht „Assistenten“, ungefähr zehn „Gäste“ und die schätzungsweise 100 zahlenden Teilnehmer.
Der Einzug der Trainer erfolgte unter frenetischem Beifall der zehn „Gäste“, die die Sache schon mal gemacht hatten und jetzt dabei waren, ohne sich beteiligen zu dürfen, die aber bestimmte choreografische Aufgaben zu erfüllen hatten; insbesondere hatten sie Jubel und Begeisterung zu verströmen. Ich hab wie alle anderen mal verhalten mitgeklatscht, hätte mich aber auch nicht beschwert, wenn ich zuerst gesehen hätte, was denn hier zu beklatschen ist.
Einheizen
In den folgenden Stunden am Freitag zwischen 17:00 und 23:50 wurde uns erklärt, dass wir alle eine schlimme Erfahrung in der Kindheit gemacht hätten, aus der wir ein falsches Selbstbild mit Vorwürfen gegen uns und andere entstanden wäre. Der erste Teilnehmer erzählte seine Geschichte. Die „Trainer“ fragten mit Ja/Nein-Fragen einige Minuten nach, dann war klar, was bei diesem Teilnehmer falsch lief.
Der Abend endete mit einer halbstündigen Diskussion darüber, ob man seine Wasserflaschen mit an seinen Platz nehmen dürfe. Die Trainer luden uns ein, dies nicht zu tun. Großer Protest bei einigen Teilnehmern. Das wurde wiederum von den Trainern analysiert: „Kennst du das, dass du so voll in den Widerstand gehst? Ja, und wer zahlt den Preis? Du!“
Über Nacht sollten wir uns schon mal überlegen, was uns in der Kindheit aus der Bahn gebracht hatte, würden wir noch brauchen.
Samstag morgen
Am nächsten Tag durften einzelne aufstehen, bekamen ein Mikro, erzählten ihre Geschichte und die Trainer teilten sie in kurzen Gesprächen auf Teufel-komm-raus in eine von sieben Kategorien ein:
... so Sachen eben.
Man merkte schon, dass unter den Teilnehmern Persönlichkeitsstrukturen in allen Varianten, Farben und Ausprägungen vertreten waren. Auch merkte man, dass nicht alle gleich stabil waren.
Nach der Mittagspause würden wir dann die falschen Vorwürfe von uns werfen und dann stünde einem „Leben in Fülle, Liebe und Ekstase“ nichts mehr im Wege. Also für Ekstase am Samstag Nachmittag bin ich eigentlich immer zu haben.
Zum Mittagessen gab es schon mal Salat in Hülle und Fülle, ich wusste bislang gar nicht, was man aus Kürbis alles machen kann.
Der Nachmittag
Danach wurden wir „eingeladen“, an einer Meditation teilzunehmen. Es fing ganz normal mit Zimmerspringbrunnenmusik an, atmen, in die Zehen reinfühlen, ich war ganz entspannt.
Und dann, ohne weitere Vorwarnung, wechselte die Musik auf eine finstere Orgelmusik in Moll und wir sollten uns vorstellen, wir seien wieder Kind und sollten mal die Kellertreppe hinuntergehen. Was war noch mal diese schlimme Kindheitserinnerung, die uns so tief getroffen hatte, dass unser ganzes Leben sich davon ausgehend schlecht entwickelt hatte?
Die ersten Teilnehmer fingen an zu weinen. „Bitte jetzt ganz bildhaft vorstellen!“
Eine Teilnehmerin schrie an dieser Stelle über eine Minute lang so laut, dass drei Assistenten sie rausbringen mussten. Die anderen sollten aber ganz entspannt weitermachen. Ach ja, jetzt sollte man das alles hinter sich im Keller lassen und befreit rauskommen. Füße kreisen, aufwachen.
Das war dann auch der Moment, in dem ich aufgestanden bin, mein Namensschild abgegeben habe und das Seminar endgültig verlassen habe.
Meine Beurteilung
Insgesamt habe ich mich wie auf einer Geisterbahn der Psychotherapie gefühlt. 100 Leute – die jeweils 600 Euro gezahlt hatten, macht also schon mal 60.000 Euro – wurden in eine Gondel gesetzt und an klassischen Therapieelementen vorbeigefahren, ob das jetzt auch nur im geringsten passte oder nicht. Die wirkstärksten Elemente wurden besonders falsch und alle ohne angemessene Vorbereitung oder passendes Ziel eingesetzt. Hauptsache „intensiv“.
Fahrtrichtung: Einmal durchs dunkle Tal, alles von sich werfen, dann für immer frei und Ekstase.
Dieses Gruppen-Seminar war eine Geisterbahn-Fahrt. Es gibt auch gute Seminare; dies war schlecht. Aber wenn du meine Meinung hören willst: Buch im Zweifel kein Großgruppen-Seminar. Es ist zu wahrscheinlich, dass das eine Geisterbahnfahrt wird. Buch dir lieber mit dem gleichen Geld sechs Stunden Einzelcoaching. Dann fährst du praktisch mit dem Taxi, ganz individuell, von da, wo du stehst, dahin, wo du hinwillst.
Ich hatte von Samstag Abend bis Sonntag dann ja frei. So bin ich einfach in die Hotel-Sauna gegangen. Das war mit Sicherheit wesentlich besser und gesünder für meine Psyche als dieses Gruselseminar.