Kind schreit nachts; Vater hat wichtiges Meeting am nächsten Tag; besser nicht in die Notaufnahme, erst Stau, dann Wartezeit, Bazillen usw. Stattdessen lieber ein Gerät benutzen. Ein Diagnosegerät für die ganze Familie. Geht das?Der Telemedizin gehört die Zukunft. Oder sagen wir lieber, ein Teil der Zukunft. Das Beurteilen von Hautausschlägen, Röntgenbildern oder Laborbefunden, sogar EKG- oder EEG-Befunde sind mittlerweile über E-Mails zwischen Ärzten, aber auch zwischen Patienten und Ärzten, häufiger geworden.
Zuletzt haben auch die Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen grünes Licht gegeben, diese Kontaktaufnahmen zuzulassen und abrechnen zu können. Wenn Geld fließt, und aus dem bisherigen Zusatzangebot eine mögliche Geldquelle wird, dürfte die Telemedizin nicht mehr aufzuhalten sein.
Ein Handheld ersetzt die Untersuchung
Eine israelische Firma geht noch einen Schritt weiter. Sie bietet ein Device an, mit dem mehrere technische Untersuchungsschritte durch den Patienten oder eine Hilfsperson durchgeführt werden können: Fiebermessen, Aufnahmen der Haut, des Rachens oder der Zunge, des Gehörgangs, schließlich sogar eine Auskultation von Herz- und Atemgeräuschen. Diese Untersuchungsschritte werden durch einen Arzt am anderen Ende gesteuert und beurteilt. Das Gerät hilft bei der richtigen Einstellung, um beispielsweise das Trommelfell korrekt zu fotografieren. Der Arzt kann dann entscheiden, ob eine Diagnose bereits möglich ist, welche therapeutischen Schritte notwendig sind und sogar ein elektronisches Rezept an eine lokale Apotheke senden.
Beworben wird das Device mit der Idee, sich einen Besuch beim Arzt zu sparen, vor allem nächtens oder am Wochenende in der Notfallambulanz. Ein YouTube-Werbevideo zeigt die üblichen Zwistigkeiten: Kind schreit nachts, der Vater hat ein wichtiges Meeting am nächsten Tag, der Weg zur Ambulanz ist im Stau beschwerlich, die Wartezeit im Krankenhaus lang und voller Bazillen. Da ist es doch einfacher, das Diagnosegerät zu Hause zu haben und am direkten Draht den Arzt zu befragen.
Kosten sind unklar
Was das Device kosten wird, lässt sich aktuell nicht recherchieren. Die Erfinder werden zitiert, es sei „erschwinglich“ für eine normale Familie. Außerdem halte es ja schließlich ein Leben lang und lässt sich unter Familienmitgliedern austauschen. Wird es ein Mietmodell geben mit einem Vertrag zu einem Lizenz-Arzt? Oder muss der eigene Arzt sich selbst eine Lizenz kaufen? Das Gegenüber wird ja sicherlich auch eine Software brauchen, um die Daten zu verarbeiten.
Wie werden die Arztkosten berechnet? In den USA gibt es oft Auflagen der Krankenkassen, zu welchem Arzt man gehen darf. Vielleicht wird es eine Verpflichtung geben, das Tele-Doktor-Device zu verwenden, bevor man einen Spezialisten aufsucht. Das wissen wir alles noch nicht.
Die Telemedizin ist nicht aufzuhalten
Es wäre ein Leichtes, reflexartig die Telemedizin im Allgemeinen oder solche technischen Geräte im Speziellen abzulehnen. Der Arzt-Patienten-Kontakt ist heilig, der erste Eindruck zählt, der Allgemeinzustand, das Haptische, das unverfälschte Auskultieren und Beurteilen. Trotzdem werden die Hilfsmittel Einzug halten in unseren Alltag. Wir können nicht über volle Notfallambulanzen klagen oder die Landarztmisere bejammern, ohne einen Ausweg zu bieten. Vielleicht kann die Telemedizin das leisten.
Dazu muss aber die Technik höchstem Standard genügen. Fiebermessen ist einfach, vielleicht auch das Bild eines Leberflecks am Bildschirm beurteilen, aber für Herz- und Atemgeräusche braucht es schon extrem gute Aufnahmetechnik. Auf der Homepage des Herstellers finden sich bereits Anwendungsstudien, auch von Universitäten, die beweisen wollen, dass die Technik sogar besser sei als die herkömmlichen Untersuchungsmethoden.
Wer haftet bei Versagen?
Außerdem werden wir über Haftpflichtansprüche nachdenken müssen. Wer ist Schuld, wenn das Gerät Farbverläufe oder Geräusche falsch übermittelt oder verfälscht? Überall wird ein Disclaimer aufblinken, dass der mittelbare Technikkontakt die Konsultation in der Praxis nicht ersetzen kann.
Wie werden sich die Medical Skills der zukünftigen Mediziner verändern? EKG-Diagnose-Tools, digital verstärkte Stethoskope, Apps, die aus verschiedenen Symptomen die wahrscheinlichste Diagnose generieren. Sie werden die jungen Ärzte stumpfer machen für das eigene Wissen, das eigene langjährige geschärfte Diagnosegefühl.
Erfahrene Ärzte kennen das: Bei Angesicht des Patienten ein Gespür zu entwickeln, ob eine ernste Erkrankung vorliegt oder nicht. Behalten wir das oder verlassen wir uns immer mehr auf die Technik, bis wir nach Art von Star-Trek-Legende Dr. McCoy mit einem Diagnose-Piepser den Körper des Patienten abscannen, um am Ende zu erfahren, dass die vermutete Appendizitis nur eine Flatulenz war?
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