Forscher beißen sich an Alzheimer-Therapien buchstäblich die Zähne aus. Eine heiße Spur kommt aus der Zahnmedizin. Parodontitis ist neben anderen Faktoren ein möglicher Auslöser. Hemmstoffe sollen bakterielle Proteine schachmatt setzen.
In Gehirnschnitten verstorbener Alzheimer-Patienten finden Wissenschaftler regelmäßig Ablagerungen von β-Amyloid (Aβ). Recht naheliegend versuchen sie deshalb in Studien, das unerwünschte Protein mit Antikörpern auszuhebeln – bislang ohne großen Durchbruch. Doch ein paar kleine, bislang kaum beachtete Forschergruppen sehen im Parodontitis-Keim Porphyromonas gingivalis einen möglichen Auslöser der neurodegenerativen Erkrankung. Ihre Beweise kommen nicht nur aus Tierexperimenten oder Kohortenstudien. Auch ein innovativer Hemmstoff für den Keim wurde getestet. Steht uns der lang erhoffte Durchbruch bevor?
Dazu eine kurze Zeitreise in die Vergangenheit, denn so neu ist die Erkenntnis eigentlich nicht. Dass es Assoziationen zwischen einer schlechten Mundhygiene und dem Alzheimer-Risiko gibt, vermuten Forscher schon seit 2012. Ihre Kohorte bestand aus 4.425 erwachsenen Japanern über 65. Und siehe da: Wer im Alter weniger eigene Zähne besaß, hatte ein höheres Demenzrisiko. Schon damals vermutete der Coautor Yukio Hirata, zahnmedizinische Sanierungen könnten vielleicht eine Strategie gegen Alzheimer sein. Die Arbeit hat aber mehrere Schwächen. Sie basiert teilweise auf Fragebögen, was Falschangaben Tür und Tor öffnet. Und bekanntlich zeigt jede Kohortenstudie Assoziationen, aber keine Kausalitäten. Hinzu kommt: Warum Patienten ihre Zähne verloren hatten, etwa durch eine Parodontitis oder durch Karies, blieb bei der Arbeit offen. Doch Wissenschaftler ließen nicht locker.
Ein weiteres Mosaiksteinchen fand Sopie Poole von der University of Central Lancashire, Preston. Sie infizierte zwölf Mäuse mit typischen Keimen aus der menschlichen Mundhöhle. Dazu gehörten neben Porphyromonas gingivalis auch Treponema denticola, Tannerella forsythia oder Fusobacterium nucleatum. Nach zwölf bzw. 24 Wochen, fand sie in fast allen Fällen bakterielles Erbgut im Gehirn ihrer Nager, nur nicht bei F. nucleatum-Monoinfektionen. Speziell bei P. gingivalis wurde das Komplementsystem aktiviert, und es kam zu Schäden an Neuronen. Ob der Schritt wirklich zu Morbus Alzheimer führt, zeigte Poole nicht. Sie weist jedoch experimentell nach, dass Bakterien aus der Mundhöhle tatsächlich das Gehirn erreichen.
Ihre Befunde bestätigte ein Team um Naoyuki Ishida von der Matsumoto Dental University im japanischen Shiojiri. Die Forscher arbeiteten mit transgenen Alzheimer-Mäusen als Modell. Ein Teil der Nager wurde mit P. gingivalis infiziert, ein anderer Teil diente als Kontrollgruppe. Tatsächlich verschlechterten sich kognitive Funktionen in der Bakteriengruppe. Gleichzeitig wurde mehr Beta-Amyloid im Gehirn gefunden. Ablagerungen des Proteins gelten als möglicher Auslöser von Morbus Alzheimer. „Parodontitis, die durch P. gingivalis hervorgerufen wird, kann die Ablagerung von Aβ verstärken“, vermutet Naoyuki im Artikel.
Alle roten Fäden liefen bei Stephen S. Dominy von Cortexyme, einem forschenden Biotech-Unternehmen, zusammen. Er identifizierte nicht nur in 90 Prozent aller 50 untersuchten Gehirnproben von verstorbenen Alzheimer-Patienten den Parodontitis-Keim P. gingivalis. Vielmehr stieß der Forscher in Bakterien ein Enzym namens Gingipain. Es gehört zu den Proteasen, das heißt, es baut andere Proteine ab. Dominy vermutet, Gingipain könne körpereigene Zytokine herunterregeln. Ohne diese Entzündungsbotenstoffe tut sich unser Organismus schwer, P. gingivalis zu attackieren. Im Gehirn von Patienten standen hohe Gingipain-Spiegel u.a. mit viel Tau-Proteinen in Verbindung. Letztere führen zu Tau-Fibrillen. Diese zählen neben Beta-Amyloid-Plaques zu den pathologisch nachweisbaren Auffälligkeiten bei Morbus Alzheimer.
Brachte Dominy bei Mäusen P. gingivalis in die Mundhöhle, um Parodontitis zu simulieren, kam es nicht nur zur Besiedlung des Gehirns, was bereits Teams vor ihm gezeigt hatten. Vielmehr synthetisierten Nervenzellen verstärkt Beta-Amyloid-Proteine. Darüber hinaus erwies sich Gingipain in vivo und in vitro als neurotoxisch. Für Dominy waren diese Erkenntnis wie ein Sechser im Lotto – nicht nur wissenschaftlich, sondern auch wirtschaftlich aufgrund des Potenzials für neue Pharmaka.
Gab er Nagern einen niedermolekularen Hemmstoff, der sich gegen das unerwünschte Protein richtete, ging auch die bakterielle Kolonisation im Gehirn der Tiere zurück. Außerdem sank die Syntheserate von Beta-Amyloid, und entzündliche Prozesse wurden inhibiert. „Diese Daten legen nahe, dass Gingipain-Inhibitoren für die Behandlung der Gehirnbesiedlung von P. gingivalis und der Neurodegeneration bei der Alzheimer-Krankheit nützlich sein könnten“, fasst Dominy zusammen.
Dass er hier im Konjunktiv berichtet, ist mehr als berechtigt. Erst vor wenigen Monaten hat sein Arbeitgeber Cortexyme Daten einer Phase-1-Studie mit gesunden Probanden und Alzheimer-Patienten veröffentlicht. Der Inhibitor COR388 erwies sich als gut verträglich; Sicherheitsbedenken gab es nicht. Das klingt gut. Bei kognitiven Tests, die nicht zu den primären Endpunkten gehören, waren Unterschiede zwischen Verum und Placebo je nach Score teilweise statistisch signifikant, teilweise aber auch nicht. Es gibt noch viel zu tun.
Wo stehen wir also? Trotz offener Fragen deutet viel darauf hin, dass Parodontitis neben weiteren Faktoren wie der Genetik das Alzheimer-Risiko erhöht. DocCheck hat mehrere Neurologen, u.a. ein Neurologie-Professor aus der Forschung, befragt. Sie waren sich darin einig, dass es sich um einen interessanten Ansatz handelt, der momentan aber noch klar nicht zu bewerten sei. Ob Inhibitoren wie COR388 tatsächlich klinisch relevante Effekte bringen, können erst Phase-II-Stioden zeigen. Bis dahin gilt "Primum non nocere": Patienten nicht schaden, sondern Zahnfleischentzündungen sanieren.
Artikel von Michael van den Heuvel
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