Die Opioidkrise in den USA ist untrennbar verbunden mit der Erfolgsgeschichte eines reichen Familienclans – den Sacklers. Sie stehen hinter der Pharmafirma Purdue, die jahrelang Ärzte in ihrem Verschreibungsverhalten manipuliert hat. Bisher kamen sie glimpflich davon. Jetzt gibt es neue belastende Dokumente.
Diese Familie hat ihr Imperium auf Schmerzen aufgebaut, schrieb der New Yorker schon im Jahr 2017. Gemeint ist der Sackler-Clan, der das Pharmaunternehmen Purdue Pharma LP betreibt. Laut Forbes sind die Sacklers eine der reichsten Familien Amerikas. Purdue entwickelte das Schmerzmittel Oxycontin, das 1995 auf den Markt kam. Mittlerweile ist dieses Analgetikum auf Basis von Oxycodon in den USA ein Blockbuster, das den Sacklers zu Einnahmen im zweistelligen Milliardenbereich verholfen hat.
Opioide spielen eine wesentliche Rolle in der Schmerzmedizin, in vielen Fällen ist die Einnahme für Patienten unverzichtbar. Trotzdem: Was den Einsatz von Opioiden betrifft, ist die Situation in den Vereinigten Staaten eskaliert. Die USA haben mit einer Opioidkrise zu kämpfen, die kaum aufzuhalten ist. Und daran gibt der Bundesstaat Massachusetts (offiziell: The Commonwealth of Massachusetts) vor allem Purdue die Schuld. Denn internen Dokumenten zufolge soll das Pharmaunternehmen schon lange gewusst haben, was es offiziell abstreitet: Und zwar, dass das stark suchterzeugende Medikament zu Überdosierungen und Todesfällen führt.
In einem detaillierten Memorandum des Commonwealth of Massachusetts, das beim Superior Court einging, werden insgesamt 17 Mitglieder des Pharmaunternehmens Purdue angeklagt. Sie sollen starken Einfluss auf Ärzte ausgeübt haben, indem sie aggressives Marketing für Oxycontin betrieben und zu unnötig hohen Dosierungen rieten. Und das, obwohl sie über das hohe Suchtpotenzial der Opioide Bescheid wussten. Dabei sollen dem Gericht seit letztem Donnerstag bisher unbekannte E-Mail-Verläufe und andere interne Dokumente vorliegen. Die sogenannten „Massachusetts Sackler Documents“. Die Anschuldigungen seitens des Bundesstaats Massachusetts sind deutlich formuliert:
„Purdue Pharma hat die Epidemie erschaffen und davon mithilfe eines illegalen Lügenkonstruktes profitiert. Erstens täuschte Purdue sowohl Ärzte als auch Patienten in Massachusetts, um ihre gefährlichen Medikamente mehr und mehr Menschen nahezubringen. Zweitens verleitete Purdue diese Menschen dazu, höhere und gefährlichere Dosen einzunehmen. Drittens bewegte Purdue sie dazu, für längere und schädlichere Zeitspannen ihre Medikamente einzunehmen. Über den gesamten Zeitraum verbreitete Purdue Unwahrheiten, um Patienten von Alternativen abzuhalten. Sogar als Purdue davon erfuhr, dass Menschen in Massachusets süchtig waren oder starben, behandelte Purdue Ärzte und deren Patienten als Angriffsziel, um mehr Medikamente zu verkaufen.“
Seit es das Unternehmen gibt, scheitern Versuche, Purdue zur Verantwortung zu ziehen. Im Jahr 2007 gab der Hersteller zu, es mit verkaufsfördernder Werbung übertrieben und bezüglich der Sicherheit sowie des Suchtpotenzials untertrieben zu haben. Nach bundesrechtlichen Ermittlungen wurde Purdue im Jahr 2007 für schuldig befunden. Die Folge: Das Unternehmen musste laut Medienberichten 635 Millionen Dollar zahlen, weil es die Öffentlichkeit bezüglich der Risiken von Oxycontin falsch informiert hatte. Dem Erfolg hat es kaum geschadet.
Nach wie vor häufen sich die Klagen gegen das Unternehmen – bislang ohne weitreichende Konsequenzen für den Clan. Im Jahr 2017 gab es eine regelrechte Klagewelle, an der sich laut Medienberichten Bundesstaaten, Städte, Gemeindebezirke und sogar Stämme von Ureinwohnern beteiligten. Im März 2019 sollen nun die ersten Präzedenzfälle als Sammelklage vor Gericht kommen. Im Februar letzten Jahres hatte Purdue einer Forderung von Klägern zumindest teilweise nachgegeben. Der Medikamentenhersteller versprach, mit der Vermarktung des Medikaments bei Ärzten aufzuhören. Purdue verkündete damals, die Hälfte des Sales-Teams zu entlassen und keine Handelsvertreter mehr in Arztpraxen zu schicken, um mit ihnen über den Einsatz von Oxycontin zu sprechen. Das verbleibende Verkaufsteam würde sich fortan auf andere Medikamente konzentrieren.
Vor wenigen Tagen kam nun eine weitere Anklage des Bundesstaats Massachusetts hinzu. Sie besagt erneut, das Pharmaunternehmen habe das Geschäft mit suchterzeugenden Medikamenten vorangetrieben und sei verantwortlich für die vorherrschende Opioidkrise. Nicht nur Purdue Pharma ist von dieser Anklage betroffen, unter anderem sollen auch Endo International, Teva Pharmaceutical Industries und Johnson & Johnson in diesem Fall zur Rechenschaft gezogen werden, berichtete das Magazin Finanz und Wirtschaft.
Schon in den Jahren 2014 und 2015 habe Purdue darüber nachgedacht, das Medikament Suboxone zu verkaufen. Das Kombi-Präparat aus den Wirkstoffen Buprenorphin und Naloxon wird als Substitutionsmittel in der Therapie von Opioidabhängigen eingesetzt. „Es ist ein attraktiver Markt“, heißt es in einem internen Memo des Unternehmens, schreibt der Guardian. Weiter sehe man hier einen „großen ungedeckten Bedarf bei gefährdeten, unterversorgten und stigmatisierten Patienten, die an Substanzmissbrauch, Abhängigkeit und Sucht leiden." Bisher stieg Purdue noch nicht ins Antidot-Geschäft ein. Allerdings soll Richard Sackler letztes Jahr ein Patent für ein Medikament zur Suchtbekämpfung erhalten haben.
In einem Statement reagierte Purdue kürzlich auf die Vorwürfe. Der Bundesstaat Massachusetts würde versuchen, Purdue sowie seine Führungskräfte und Mitarbeiter öffentlich zu diffamieren, indem man Schnipsel von Millionen von Dokumenten aus dem Kontext reiße und ihre Bedeutung verzerre. „Die Anklage ist gespickt mit demonstrativ inakkuraten Anschuldigungen“, so das Unternehmen. Purdue bestätigte außerdem, es habe eine Due-Diligence-Prüfung durchgeführt, um die Rechte für das Anti-Sucht-Medikament zu kaufen, das bereits auf dem Markt war.
Darin sieht das Unternehmen aber nichts Schlechtes und kritisiert den Bundesstaat, der das Unternehmen in einem schlechten Licht darstellen wolle, nur weil es in Erwägung gezogen habe, über den Verkauf von Medikamenten nachzudenken, die die Sucht bekämpfen oder einer Überdosierung entgegenwirken können. Des Weiteren betonte Purdue, dass es sich bei Oxycontin um ein von der FDA zugelassenes Medikament handele. Überdosierungen gingen laut Purdue vor allem auf den Missbrauch von Heroin und Fentanyl zurück.
Purdue soll nichts dem Zufall überlassen haben, wo es ihnen möglich war, gingen sie strategisch vor. „Die Sacklers gaben Millionen aus, damit Leute, die die Wahrheit kannten, sich loyal verhielten“, lautet einer der vielen Vorwürfe in diesem Zusammenhang. Mit der Unternehmensberatung McKinsey soll Purdue zusammen gearbeitet haben, um Wege zu finden, die Verkaufszahlen des Schmerzmittels zu steigern, da die Behörden damit begannen, unzulässigen Verkäufen in Apotheken nachzugehen. Zudem halfen die Berater laut StatNews von 2009 bist mindestens 2014 dabei, die Verkaufs-Message optimal zu formulieren, um Oxycontin zu verkaufen und dabei Bedenken über Sucht- oder Überdosierungsgefahr zu entkräften. Dies soll aus den neuen Dokumenten, den „Massachusetts Sackler Documents“, hervorgehen.
In einer Präsentation soll zudem ein Berater dem Hersteller erklärt haben, wie man die Verschreibungen erhöhen könnte. Sein Vorschlag: Ärzte davon überzeugen, dass Opioide den Patienten „Freiheit“ und „inneren Frieden“ sowie „die bestmögliche Chance, ein erfülltes und aktives Leben zu führen“ bringen. Weil die Verschreibungsrate durch die Besuche der Verterter in den Arztpraxen stiegen, empfahl McKinsey, die Besuche pro Jahr von 1.400 auf 1.700 zu erhöhen.
Wenn es um die Suche nach Schuldigen geht, war Purdue den neuen Dokumenten zufolge, bereits im Jahr 2001 fündig geworden: Die Menschen, die Opioide missbrauchen. „Wir müssen auf die Drogenabhängigen einschlagen, wo es möglich ist“, schrieb Richard Sackler laut New York Times in einer E-Mail. „Sie sind leichtsinnige Kriminelle.“ Zu den neu herausgegebenen Informationen im Rahmen der aktuellen Anklage gehören laut CNN auch folgende Auszüge interner Korrespondenzen unter Führungskräften: Schon im Jahr 1997 war man sich darüber im Klaren, dass Ärzte die deutliche Fehlwahrnehmung hatten, dass Oxycontin schwächer wirke als Morphin, was dazu führe, dass sie Oxycontin öfter verschrieben als Morphine und sogar öfter als das Substitut für Tylenol, berichtet CNN. Außerdem schmiedeten die Sacklers und Führungskräfte gemeinsam taktische Pläne, sogenannte „key opinion leaders“ unter Ärzten zu identifizieren und zu ihren Gunsten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang wurde laut CNN auch über kostenlose Medikamenten-Proben zur Vergabe an Ärzte nachgedacht.
Im Straßenverkehr oder durch Waffengewalt kämen laut Medienberichten in den USA durchschnittlich genau so viele Menschen ums Leben wie durch eine Opioid-Überdosis. Das sind circa 33.000 Menschen pro Jahr, also 90 Todesfälle pro Tag. Eine Lösung sollte also so schnell wie möglich gefunden werden. Das Verfahren gestaltet sich trotzdem zäh. Dadurch, dass so viele unterschiedliche Parteien in den Konflikt involviert sind, ist die Situation komplex. Es gibt nicht nur einen Schuldigen, sondern mehrere. Nicht nur Pharmaunternehmen, auch Vertreter und Ärzte sind mitverantwortlich für die Opioidkrise. Die Sache ist zusätzlich kompliziert, weil es mehrere Klägergruppen gibt, darunter Bundesstaaten, Städte und Bezirke. Außerdem handelt es sich nicht um ein gänzlich schädliches Produkt, sondern um ein nützliches, von der FDA zugelassenes Medikament, das bedauerlicherweise auch zum Teil mit tödlichem Ausgang missbräuchlich verwendet werden kann.
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