Etwa 100 Millionen Männer sind von Depressionen betroffen. Eine Therapie mit Antidepressiva hilft nicht allen. Könnte hier Testosteron eine Alternative sein? Die Meinungen der Experten gehen stark auseinander.
Eine Testosteron-Therapie bei Männern wird standardmäßig in der Behandlung des primären Hypogonadismus eingesetzt. Bei der Krankheit wird aufgrund einer Funktionsstörung der Hoden zu wenig Testosteron produziert. Der Einsatz des Hormons wird aber auch bei anderen Erkrankungen diskutiert, so etwa bei Depressionen. Nach rund 20 Jahren Forschung gibt es jedoch noch keine Gewissheit darüber, ob das Sexualhormon bei Männern tatsächlich antidepressiv wirkt. Eine Testosteron-Therapie bei Depressionen wird daher bislang nicht empfohlen.
Auch wenn Testosteron keine Standardbehandlung bei Depressionen ist, wird es bereits eingesetzt. Prof. Dr. Jens Kuhn ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Oberhausen. Er sieht Testosteron als mögliche Option zur Depressions-Therapie, wenn andere Behandlungen nicht ausreichend helfen. Es kommt immer wieder vor, dass er von Patienten mit Depressionen auf das Thema Testosteron angesprochen wird: „Die Patienten sind entweder selbst auf die Behandlungsoption gestoßen oder werden vom Urologen oder Hausarzt im Zusammenhang mit einem erniedrigten Testosteron-Wert überwiesen.“ Kuhn hätte daher gerne evidenzbasierte Empfehlungen dazu, wann Testosteron bei Depressionen eingesetzt werden sollte und in welcher Dosis.
Ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Biopsychologen Dr. Andreas Walther von der TU Dresden wertete nun 27 randomisierte placebokontrollierte Studien mit insgesamt 1.890 Männern aus. „Testosteron ist schon jetzt auf dem Markt verfügbar und wird über Umwege von zahlreichen Männern eingesetzt. Wir wollten mit der vorliegenden Metaanalyse klären, ob Testosteron tatsächlich eine antidepressive Wirkung aufweist“, erläutert Walther. Anlass für die Suche nach Alternativen zur derzeitigen Behandlung mit Antidepressiva gibt es genügend. Denn vielen Patienten helfen Medikamente nur unzureichend. So erfahren nach einer Schätzung der WHO 30 Prozent aller Patienten trotz mehrerer Therapieversuche mit Antidepressiva keine nachhaltige Besserung der Depression. Die Metaanalyse könnte nun entscheiden, ob sich Testosteron als neue Therapiemöglichkeiten für spezifische Subgruppen von Männern eignet, so Walther.
Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass Testosteron Depressionen im ähnlichen Maße lindert wie gängige Antidepressiva. In einigen Studien konnten die depressiven Symptome bei einer Hormonsubstitution um bis zur Hälfte reduziert werden. Allerdings stellte sich erst bei einer relativ hohen Dosis, 500 Milligramm Testosteron pro Woche, eine signifikante Besserung der Symptome ein.
Kuhn findet dieses Fazit interessant, da die Forscher nun eine Zahl nennen, an der man sich unter Umständen bei der Testosteron-Substitution orientieren kann. Und ein weiteres Ergebnis der Metaanalyse findet der Psychiater spannend: Testosteron wirkte laut der Metaanalyse antidepressiv, egal wie hoch der Testosteron-Spiegel der Probanden war. Demnach sollen Patienten mit niedrigem oder normalem Spiegel gleichermaßen von einer Therapie profitieren. Trotz diesem überraschenden Ergebnis bleibt Kuhn hier zurückhaltend. Er würde Testosteron nur dann einsetzen, wenn im Vorfeld ein niedriger Hormonspiegel festgestellt wurde.
Das positive Fazit der Analyse der TU Dresden ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da die Qualität der herangezogenen Studien zu wünschen übrig lässt. So litten die Probanden oftmals neben der Depression unter einer Zusatzerkrankung, beispielsweise dem Hypogonadismus. Solche Studien können nicht eindeutig beantworten, ob Testosteron tatsächlich die Depression oder lediglich die Grunderkrankung therapiert. Das Risiko für Verzerrungen ist daher hoch, sagt Walther.
Eindeutige Therapieempfehlungen sind auch nach der Metaanalyse nicht möglich, da in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit der Testosteron-Therapie nach wie vor viele Fragen ungeklärt sind. Dennoch bildet die Analyse eine Grundlage für weitere großangelegte Studien, sagt Walther. Diese Ansicht teilen auch Shalender Bhasin und Stuart Seidman. Die Autoren sehen die Studienlage im Editorial zur Metaanalyse ebenfalls als schwierig. Noch wisse man nicht, ob das Ergebnis klinisch relevant ist.
„Man sollte beginnen, zu forschen und vernünftige Studien mit adäquaten Fallzahlen, sauberer Diagnostik und klaren Zielkriterien zu machen. Ebenso ist es unumgänglich, größere und langfristige Sicherheitsstudien vorzulegen“, sagt Prof. Dr. Claus Normann, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Freiburg. Der Psychiater sieht die Forschung um Testosteron bei Depressionen kritisch und bezweifelt auch die antidepressive Wirkung des Hormons generell. Seiner Einschätzung nach ist die Forschung noch weit von klaren Ergebnissen oder gar Therapieempfehlungen entfernt.
Laut Normann zeigt die Arbeit von Walther vor allem, dass eine Metaanalyse nur so gut sein kann, wie die darin zusammengefassten Studien. Er kritisiert, dass einige Probanden eigentlich nicht unter einer Depression litten. Lediglich über einen Fragebogen wurde bei den Versuchsteilnehmern erfragt, ob depressive Symptome vorliegen. Dies reiche für eine gesicherte Diagnostik nicht aus. Zudem erreichten einige der Probanden auch mittels Fragebogen auf einer Skala nicht genügend Punkte, um von einer Depression sprechen zu können. Normann hält dies für absurd. Denn nur anhand von Studien mit dem Endpunkt „Depression“ lasse sich eine gesicherte Aussage darüber treffen, ob Testosteron antidepressiv wirke oder nicht. Des Weiteren hält Normann auch die Gruppengröße der Studien für zu klein und bemängelt, dass die Analyse Nebenwirkungen nicht ernsthaft erfasse.
Dr. Robin Haring ist Professor für vergleichende Gesundheitswissenschaften an der EU FH und Experte im Feld der Testosteron-Forschung. Auch er hält die methodische Herangehensweise der Analyse für fragwürdig: „Eine Metaanalyse mit einer strengeren Studienauswahl wäre wohl zu einem anderen Ergebnis gekommen“. Er führt an, dass die versammelten Studien eine sehr geringe Homogenität besitzen, wobei diese Einheitlichkeit, so Haring, die Voraussetzung für die Durchführung einer sauberen Metaanalyse ist. Denn der Studienpool sei kein Gemischtwarenladen. Haring fordert daher wie Normann eine breitere Evidenzbasis mit Depression als primären Endpunkt Erst dann würde eine Metaanalyse zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen.
In seiner epidemiologischen Forschung konnte Haring keinen belastbaren Zusammenhang zwischen dem Testosteron-Status und der Stimmung von Männern finden. Wenn bei einer Depression zugleich ein niedriger Testosteron-Spiegel festgestellt wird, liegt das nach seiner Erfahrung meist an vermittelnden Faktoren, sogenannten Confoundern. So können der Lebensstil eines Menschen, Fettleibigkeit oder das Schlafverhalten die Entstehung einer Depression begünstigen und sich dabei zugleich auf den Hormonspiegel auswirken. Einen kausalen Zusammenhang sieht Haring der derzeitigen Studienlage nach eher nicht.
Auch Normann sieht die Zukunft der Depressions-Therapie abseits von Testosteron. Er setzt auf neue Wirkmechanismen. Im Moment steht der Neurotransmitter Serotonin im Zentrum der Bemühungen, Depressionen medikamentös beizukommen. An dieser Stelle setzen Antidepressiva, wie Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer an. Und auch Testosteron nimmt Einfluss auf die Konzentration von Serotonin.
Für vielversprechend hält Normann dagegen Substanzen wie Ketamin und glutamaterge Substanzen (DocCheck berichtete), da sich bei diesen im Gegensatz zu Antidepressiva schnell eine Wirkung einstellt. Außerdem nennt Normann Stimulationsverfahren wie zum Beispiel die repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS). Diese Methoden könnten als alleinstehende Therapie oder auch als Ergänzung der Psychotherapie zukünftig Patienten aus der Depression verhelfen.
Artikel von Hanna Stern
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