Bei Jungen wird deutlich öfter eine Entwicklungsstörung diagnostiziert als bei Mädchen. Sie bekommen deshalb auch häufiger Heilmittel verabreicht. Generell nehmen bei Kindern die Diagnosen zu. So heißt es in einem aktuellen AOK-Bericht über Schulanfänger. Sollte man die Zahlen hinterfragen?
Auf Twitter las ich letztens eine Meldung der AOK über die Heilmittelverordnungen im Allgemeinen und die Unterschiede bei Jungs und Mädchen im Speziellen. Meine Kollegin @KindundKittel fragte nach, wie denn die Meinung bei uns Kinderärzten dazu sei. Deshalb beantworte ich diese Frage nun in ein paar Zeilen.
Jeder kann die Meldung auf der Website der AOK nachlesen, dennoch eine kurze Zusammenfassung:
Das Forschungsinstitut der AOK WIdO diskutiert diese Zahlen recht vorsichtig. Man sei primär zufrieden über den Rückgang der Therapien, dies liege daran, „dass Ärzte sehr genau hinschauen, wie sich ein Kind rund um die Einschulung entwickelt und wann es therapeutische Begleitung braucht“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender WIdO-Geschäftsführer. „Gleichzeitig wandeln sich die Anforderungen von Schule und Elternhaus an die Kinder sowie das ärztliche Diagnoseverhalten und die Therapiemöglichkeiten.“
Gibt es eine Vorfilterung, eine ungenannte Bias?
Sehr gut beobachtet, sehr gut geschlussfolgert. Ich denke auch, dass solche Zahlen aus verschiedenen Gründen resultieren. Die AOK bekommt ihre Prozente aus den tatsächlichen Heilmittelverordnungen für Logopädie und Ergotherapie, es werden die einzelnen Rezepte gezählt. Dagegen gestellt werden die ICD-Diagnosen, die ihr über die Abrechnungen der Ärzte via KV übermittelt werden. Mehr sagen diese Zahlen nicht.
Welchem Bias unterliegen die erhobenen Zahlen zu den Diagnosen „Entwicklungsstörung“ und „Heilmittelverordnungen“?
Wie lassen sich diese Zahlen erklären?
Es bleibt problematisch, dass im Schnitt ein Drittel aller Erstklässler eine Entwicklungsstörung haben und die Hälfte davon ein Heilmittel benötigen (Kinder, die eine Entwicklungsstörung haben und keine Heilmittel verordnet bekommen haben, fallen in der Regel in folgende Kategorien: Entweder geht es um geringe Störungen, hier reichen einfache Fördermaßnahmen, z.B. aus dem pädagogischen Bereich aus; oder es handelt sich um sehr schwer entwicklungsgestörte Kinder, die z.B. in Betreuungseinrichtungen sind).
Ist dies ein Strukturproblem? Eine Frage der Förderung in Elternhaus und/oder der Kindertagesstätten? Oder ist es eine Frage des Zeitgeistes, dass beispielsweise Kleinkinder viel früher mit Passivmedien wie Handys in Kontakt kommen? Oder ist der vielzitierte Mangel an freiem Spiel draußen unter Gleichaltrigen ohne ständige Kontrolle durch die Eltern schuld? Werden unsere Kinder zuviel reglementiert in ihrer Entwicklung? Oder durch offene Kindergartenkonzepte mehr beobachtet als gefördert? Oder ist es doch ganz einfach und unsere Kinder werden von mancher Seite schlechter gemacht als sie sind?
Ich kann aus den Zahlen in meiner Praxis nur feststellen, dass ich mich sowohl in der Diagnosestellung, als auch der Heilmittelverordnung weit unterhalb der oben genannten Zahlen bewege. Dies kann natürlich mit der Bevölkerungsstruktur in meinem beschaulichen Örtchen zusammenhängen, vielleicht aber auch mit recht vernünftigen Heilmittelerbringern, hervorragenden Frühfördereinrichtungen und einem sehr guten Netz an sozialpädiatrischer und pädagogischer Versorgung.
Die Jungen entwickeln sich schlechter als die Mädchen
Dennoch bleibt etwas festzustellen: Jungs kommen schlechter weg. Das wird jeder Kinder- und Jugendarzt bestätigen. Im Zuge einer Diskussion auf Twitter wurde vermutet, dass die Anforderungen in Schule und Kindergarten zu sehr auf Mädchen ausgerichtet seien und keiner beurteilt, ob die Kinder beispielsweise gut Fußball spielen können.
Geschenkt. Denn abgesehen davon, dass IMHO Mädchen sowieso besser Fußball spielen können, gibt es aus meiner Sicht eben keine echte Fähigkeit, die alleine von Jungen oder Mädchen als Alleinstellungsmerkmal beherrscht wird. Die Anforderungen, die unsere Gesellschaft an unsere Kinder stellt, sind vermeintlich feminine Eigenschaften: Konzentriert arbeiten, Funktionieren, lieb sein, gute Körperbeherrschung und elaborierte Sprache. Der stereotype Junge als fußballspielender Rabauke, der keine zwei Worte sauber ausspricht, hat da nur Chance mit Ergo- und Logotherapie. Und er hat immer ein ADHS.
Unsere Förderangebote sollten geschlechterunabhängig sein, um nicht in die Genderfalle zu geraten: Während es hip ist, Mädchen in klassischen Jungenbereichen zu fördern (Girls Days, Fußball, Werken), möchte ich die Jungs sehen, die eine Ballettschule besuchen oder der Mama beim Kochen helfen. Ich bediene hier ein Klischee, ich weiß, aber beim Nachfragen beispielsweise bei der U9 mit fünf Jahren gibt es hier weiterhin eine ganz klare Trennung der Geschlechter, so aufgeklärt sich die Gesellschaft auch geben mag oder so sehr uns das unsere Twitter-Facebook-Filterblase auch vorgaukelt. Nicht alle Familien sind hier im 21. Jahrhundert angekommen.
Die Pathologisierung der Kinder
Ob es nun um das „Upgraden“ von Diagnosen geht, oder darum, dass Kinder in unseren personalschwachen Betreuungseinrichtungen nicht ausreichend gefördert werden können, oder unsere Grundschulen noch immer das Schriftbild als wichtiger ansehen als die Individualität des einzelnen Schülers: Es wird immer Kinder geben, die schwächer sind als die anderen in diesem oder jenem Bereich.
Pädagogische Fördermaßnahmen sollten immer zunächst ausgeschöpft werden, d.h. die Kitas und Grundschulen sollten personell und finanziell besser ausgestaltet werden, um alle Kinder mitzunehmen. Zu viele Kinder schiebt man in den „kranken“ Bereich, obwohl sie schlicht eine schwache Veranlagung oder eine Teilleistungsschwäche haben, während sie in anderen Bereichen glänzen, die jedoch nicht schulisch relevant sind. Erkennen wir lieber diese Stärken und stärken wir damit das Selbstbild unserer Kinder.Bildquelle: Pragyan Bezbaruah, pexels